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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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zwischen Gideon Horlitz
und dem Boten aus dem ehemaligen Palais Grumbkow, dem Standort der Polizeiverwaltung.
    »Professor
Goltz, sagten Sie?«
    Der junge
Mann nickte und ein aufgeregtes Funkeln schoss aus den Augen seines Vorgesetzten.
    »Potztausend!
Ein kapitaler Fang.«
    »Deswegen
ist auch dringend Ihre Anwesenheit vonnöten, Herr Kommissar. Das ist ein gefundenes
Fressen für die Zeitungsfritzen. Wenn die Wind von der Sache bekommen, ist es aus
mit der Ruhe.«
    »Wer ist
vor Ort?«
    »Vier, fünf
Gendarmen, ein Untersuchungsrichter, ein Anwalt und Kommissar Bissing.«
    Horlitz
hob eine Augenbraue. »Sagen Sie mal, wenn Sie schon einen Kommissar haben, wozu
brauchen Sie dann mich bei der ganzen Chose?«
    »Bissing
kennt den Professor persönlich«, erklärte der Bote.
    »Aha, verstehe.«
Der Blick des Kommissars schweifte unstet im Zimmer umher, bis er auf seinen Tatortzeichner
fiel. Später sollte sich Julius Bentheim mit quälender Schärfe an diesen Zeitpunkt
zurückerinnern. Es war der kritische Moment, an dem die Weichen in seinem Leben
gestellt werden sollten. Und die Schicksalsgöttin hatte sich unerbittlich entschieden,
ihn in die Abgründe der menschlichen Seele blicken zu lassen. »Herr Künstler«, sprach
Horlitz ihn an, »es tut mir leid, Ihre Arbeitszeit wurde soeben verlängert.«
     
    Das Leben in der Marienburger Straße
erwachte allmählich. Die ersten Fuhrwerke holperten über das Kopfsteinpflaster,
die Bäuerinnen brachten ihre Waren von außerhalb zu den Märkten in der Stadt. Von
dem Verbrechen im Dachgeschoss hatten die Bewohner der Mietskaserne jedoch nichts
mitbekommen. Julius Bentheim saß gegenüber dem Kommissar in einem Landauer, einer
viersitzigen, vierrädrigen Kutsche, die sich von einem offenen in einen geschlossenen
Wagen umwandeln ließ. Da die Julinacht schwül gewesen war, fuhren sie mit offenem
Verdeck. Schweigend hatten sie etwas weniger als eine halbe preußische Meile zurückgelegt,
als der Kutscher ihr Ziel erreichte und die Pferde anhielt.
    »Steigen
wir aus«, brummte Horlitz.
    Sie schwangen
sich aus dem Wagenschlag. Der junge Bentheim war gespannt wie ein Flitzebogen. Wenngleich
sein Studium ihm kaum Freizeit ließ, liebte er doch die Aufträge, die ihn an die
absonderlichsten Orte Berlins führten. Außerdem war die Bezahlung nicht schlecht.
Es war hauptsächlich Nachtarbeit, die er verrichtete, und so bekam er einen Aufschlag
zur üblichen Entlohnung. Zumeist wurde er gerufen, um die Spuren eines Einbruchdiebstahls
abzubilden. Hin und wieder kam er auch mit Kleinkriminellen, Huren und Zuhältern
in Kontakt. Die Arbeit war vielfältig und voller Überraschungen; und das war es,
was Julius daran mochte.
    Vor dem
Eingang wartete bereits ein Gendarm auf sie. Er nickte zur Begrüßung und öffnete
den zwei Neuankömmlingen die Tür. In der Hand hielt er eine Laterne, deren Lichtschein
den Eingang ausreichend erleuchtete. »Es ist ziemlich unübersichtlich hier drin.
Ein wahres Labyrinth. Der Anwalt meinte, ich sollte unten auf Sie warten. Wo er
recht hat, hat er recht.«
    Sie erklommen
die Treppenstufen, die wenige Stunden zuvor Lene Kulm gegangen war. Gideon Horlitz
bemerkte schnaufend: »Der Anwalt, der heute Dienst hat – ist der groß und hager,
trägt seine Haare von einer Seite zur anderen über den Glatzkopf gekämmt?«
    »Ja, Herr
Kommissar.«
    Bentheim
glaubte, im flackernden Licht der Laterne ein Lächeln zu erkennen.
    »Dann ist
es Theodor Görne.«
    »Ja, so
heißt er.«
    »Hm.« Der
Kommissar murmelte Unverständliches vor sich hin. Er war ein 53-jähriger Mann mit
Bauchansatz. Seine grau melierten Haare trug er tadellos frisiert. 15 Jahre lang
hatte er als Obristwachtmeister in einem Dragonerregiment Dienst geschoben, bis
er in den Polizeidienst wechselte. Im November 1848 war er an der Auflösung der
Preußischen Nationalversammlung durch die Armee beteiligt gewesen; ein Umstand,
viel zu peinlich, um ihn je zu erwähnen.
    Die Szenerie,
die sich ihnen bot, als sie das oberste Stockwerk erreichten, hatte etwas Bizarres
an sich. Mehrere Leute drängten sich auf engem Raum zusammen und behinderten sich
gegenseitig. Rechts wurde eine Hausbewohnerin mit bleichem Gesicht von einem Gendarmen
befragt; links im Flur erkannte man den blutbespritzten Leichnam einer jungen Frau.
Ringsherum standen Männer in der Uniform der Schutzmannschaft Berlin.
    Julius zog
seine Mercier, die ihm ein Onkel einst vermacht hatte, aus der Westentasche und
blickte auf das
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