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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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Bentheim
sah beschämt zu Boden. Wenn es schon so weit kommt, dass ein Richter die eigenen
Staatsanwälte kompromittiert, festigt dies nur noch den schlechten Ruf, den die
Justiz in den Augen der Bevölkerung besitzt. Am Molkenmarkt befanden sich Polizeipräsidium
und Stadtvogtei gemeinsam im ehemaligen Palais des Oberfeldmarschalls von Grumbkow.
Gleich daneben, im früheren Palais des Grafen von Schwerin, hatte seit 1771 das
Kriminalgericht seinen Sitz genommen. Der gesamte Gebäudekomplex galt wegen der
oft willkürlich ausgeübten Polizeigewalt als Ort des Schreckens.
    Der Kommissar
warf einen betrübten Blick auf Theodor Görne, der sich mit dem Verdächtigen abmühte,
und zuckte ergeben die Achseln. »Mein lieber Julius, sehen Sie zu und lernen Sie.
Und führen Sie das Protokoll. Das können Sie doch? Stifte und Papier haben Sie ja
ausreichend zur Hand.« Er machte einen Bogen um den Ofen und bot dem Anwalt an,
die Befragung zu übernehmen. Görne fuhr sich mit der Linken über den Kopf, um ein
paar Haare glatt zu streichen, und nahm das Angebot erleichtert an.
    »Ihr Mann«,
sagte er knapp.
    Gideon Horlitz
ging vor dem feisten Kerl mit dem roten Bart in die Hocke und musterte ihn. Wie
Rübezahl erschien ihm dieser mit seinem Bauch, seiner wilden, gesinnungslosen Miene.
Zu seiner Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht des Professors ein Lächeln
ab, und er sprach ihn sogar an: »Ah, der neue Herr Kommissar. Dann können wir endlich
an die Arbeit gehen. Wir wollen doch keinen Justizskandal verursachen. Es ist löblich,
dass der gute Moritz von sich aus in den Ausstand getreten ist. Nun, wie kann ich
Ihnen dienlich sein?«
    Verdutzt
sah Horlitz zu Bentheim, der inzwischen einen Grafitstift angespitzt und das Gesagte
bereits in kursiver deutscher Stenografie zu Papier brachte. Er verwendete das System
des Franz Xaver Gabelsberger, eines vor 16 Jahren verstorbenen Ministerialbeamten
aus Bayern. Es war praktisch und leicht zu entziffern, und Julius benutzte es auch
für seine Vorlesungen an der Universität.
    »Tja, äh«,
stammelte Horlitz, »haben Sie uns etwas zu sagen, Herr Professor?«
    »Ganz und
gar nicht. Was diesen vertrackten Fall angeht, berufe ich mich auf mein Schweigerecht.
Sobald Sie mich ins Palais Grumbkow überführt haben, möchte ich, dass mir ein Pflichtverteidiger
an die Seite gestellt wird. Der soll sich um alles kümmern. Das wird es mir erleichtern,
mich wieder meinen Studien zu widmen. All dieser Polizeikram ermüdet einen nur.
Finden Sie nicht auch, Herr …?«
    »Gideon
Horlitz.«
    »Ah, Gideon.
Einer der sechs Richter der Stämme Israels. Ein schöner Name. Übersetzt heißt er
›der Hacker, der Zerstörer‹. Hoffen wir, dass Sie diesen Kriminalfall nicht zerstören
werden, Gideon. Oder dass der Fall nicht Sie zerstört.«
    Ein diabolisches
Grinsen huschte über seine Backen, bevor er wieder liebenswürdig und lammfromm aussah.
    »Sie verweigern
die Aussage?«
    »Korrekt.«
    »Gut, wenn
Sie nicht reden wollen, hat das keinen Sinn. Ich werde Ihre Überführung an den Molkenmarkt
veranlassen.«
    »Sehr liebenswürdig.
Es ist aber nicht so, dass ich mich völlig in Schweigen hüllen möchte, Kommissar.
Für eine kleine Plauderstunde bin ich leicht zu haben. Sie dürfen das Thema wählen.
Literatur, Philosophie, Musik – was hätten Sie gern?«
    »Wie wäre
es mit Medizin? Die Pathologie der Irren?«, entfuhr es Horlitz heftig.
    »Na, na,
Herr Kommissar! Warum denn gleich so aufbrausend? Um Ihnen in Ihrer schwierigen
Situation Verständnis entgegenzubringen, werde ich Ihnen einen Rat geben.«
    »Einen Rat?«
    »Ja, einen
Rat. So etwas wie eine Empfehlung, ein Fingerzeig, wenn Sie so wollen: Lassen Sie
eine Inventarliste anlegen.«
    Gideon Horlitz
richtete sich zu voller Größe auf. Seine Miene war wieder undurchdringlich. Julius
Bentheims Grafitstift ruhte untätig auf dem Papier. Interessiert beobachtete der
Tatortzeichner seinen Mentor, der den Kiefer bewegte und mit den Zähnen knirschte.
Mit einer unwirschen Handbewegung forderte der Polizeibeamte den Professor schließlich
auf, sich zu erheben. Ein Gendarm, der die Szene vom Flur aus mitverfolgt hatte,
trat heran.
    »Führen
Sie ihn ab.«
    Botho Goltz
ließ sich widerstandslos zur Tür geleiten. Der junge Bentheim blickte ihm nach.
Bevor der Mann mit den roten Haaren im Flur verschwand, hörte er ihn noch sagen:
»Wird allmählich kälter, meinen Sie nicht? Ist wohl an der Zeit, noch ein Stück
Brennholz nachzulegen
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