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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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Aufgewachsen war er im Spreewald
bei seinen Eltern, einem Krämerpaar, das auf den Lübbenauer Kürbis- und Meerrettichmärkten
jede Saison ihr Glück aufs Neue machte; doch sie waren gestorben, als er fünf war.
Beim Stapelplatz hatte ein durchgehendes Pferd erst seine Mutter überrannt, dann
seinen Vater unter die Hufe bekommen. Während die Frau auf der Stelle verstorben
war, lebte der Mann noch und rang über vier Tage und drei Nächte hinweg mit dem
Tod. Als das Unabwendbare eintrat, nahm sich ein Onkel des Kleinen an, um ihn Jahre
später für ein Studium in die Hauptstadt zu schicken. Durch Zufall hatte Julius
von einer verwitweten Offiziersgattin erfahren, die gegen geringes Entgelt Zimmer
vermietete. Er hatte die Wohnung inspiziert und für gut befunden. Schnell wurde
ein Vertrag aufgesetzt und binnen Wochenfrist war der Student bei der rüstigen Alten
eingezogen. Noch drei weitere junge Männer bewohnten das Haus, doch zwei von ihnen
sah Julius wenig oder gar nicht. Nur Albrecht Krosick, der angehende Polizeifotograf
und Student der Rechtswissenschaften, nahm häufig mit ihm die Mahlzeiten am Tisch
der Vermieterin ein.
    Diesmal
fand er ihn in der Stube, den Kopf hinter einem Berg von Büchern versteckt. Der
zwei Jahre ältere Krosick war groß und hager und lief zeitweise – wenn er für Prüfungen
büffelte – mit eingefallenen Wangen und tiefen Rändern unter den Augen umher. Ansonsten
war er ein liebenswerter Tunichtgut, der bei Wein, Weib und Gesang Zerstreuung fand.
In Wirtshäusern traf man ihn öfter an als in der juristischen Fakultät und seine
einzige körperliche Ertüchtigung bestand denn auch im Stemmen von Bierkrügen. Der
ehrwürdige Turnvater Jahn hätte ihn seinen Burschenschaften wohl ohne mit der Wimper
zu zucken als verabscheuungswürdiges Beispiel vorgehalten.
    »Gott zum
Gruße, werter Julius«, rief ihm der Fotograf jovial entgegen. Er schob einige Bücherstapel
beiseite und machte seinem Freund Platz.
    »Hallo,
Albrecht.«
    »Alter Knabe,
du siehst blass aus um die Lippen. Ist wohl Zeit für einen Roten, was meinst du?«
    »Lieber
Bier.«
    »Bier! Der
wohltuende Gerstensaft! Gottes Geschenk an die Menschheit! Auch gut. Bier gibt zumindest
keine Rotweinflecken. Komm, gehen wir in irgendeine Spelunke, wo wir reden können.«
    Sie schlenderten
zur Universität. Vor dem Gebäudekomplex mit seinen zwei Nebenflügeln und dem nach
hinten versetzten Hauptgebäude mit den sechs Säulen blieben sie stehen. Albrecht
blickte sich um. Es dauerte nicht lange, bis einer der vielen Getränkehändler auftauchte,
die stets mit schwer beladenen Handkarren vor den Lehranstalten ihre Runden machten.
Albrecht schubste Julius leicht und sagte: »Was meinst du? Die Sonne scheint, das
Wetter ist warm. Gasthaus oder Park?«
    »Park.«
    »Braver
Junge.«
    Er rief
den Mann mit dem Karren herbei und kramte in seiner Tasche nach Geld. Da der Wagen
nur zwei Räder besaß, trug der Arbeiter Tragegurte um den Hals und unter den Achseln.
So verhinderte das improvisierte Joch ein Umkippen des Konstrukts. Auf der Abstellfläche
befand sich ein dickbauchiges Holzfass mit kühlem Wasser.
    »Bedient
euch«, meinte der Mann, nachdem er ein paar Münzen in Empfang genommen hatte, und
deutete auf das Fass. Entschlossen krempelte Krosick einen Hemdsärmel hoch, tauchte
den Arm ins Wasser und fischte zwei Flaschen heraus. Die Freunde lösten den Wachsverschluss
und prosteten sich zu. Dann spazierten sie über den Platz. Das Kopfsteinpflaster
vor dem Hauptgebäude führte um einen kleinen Park. Einige Sträucher und Bäume befanden
sich hinter einer kniehohen Hecke, welche die Anlage einfasste, und in regelmäßigen
Abständen waren Straßenlaternen platziert. Der Fotograf wies wortlos auf einen Steinpoller.
Bentheim verstand, und beide setzten sich und lehnten sich mit dem Rücken an den
rundgeschliffenen Fels.
    »Sag mal,
Albrecht, musstest du die Kulm heute eigentlich fotografieren?«
    Krosick
war ganz in die Beobachtung der Passanten vertieft, weshalb er lediglich nickte.
    »Was hältst
du von der Sache?«
    »Kann ich
nicht sagen, Julius. Muss ein verdammter Spinner gewesen sein. Der Torso war regelrecht
durchlöchert. Da hat jemand ganz tief und heftig zugestochen. Sieht nach Affekt
aus.«
    »Affekt?«
    »Da waren
Emotionen im Spiel. Ein gezielter Messerstich, das ist Mord. Ein ganzes Dutzend,
das riecht nach blanker Wut. Sieh dir doch nur mal das Milieu dieser Lene Kulm an.
Obwohl ich kein Kommunist bin, muss ich Engels
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