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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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Drittes Kapitel
     
    Erst viel später kam Julius
Bentheim dazu, mit Hilfe der erhobenen Raumdaten die ersten Bilder des Tatorts zu
zeichnen. Die Stelle, an der die Leiche lag, war derart beengt, dass er sich fragte,
wie um alles in der Welt die ungezählten Leute, die hier recherchierten, es vermieden
hatten, eigene Spuren zu hinterlassen. Aber wahrscheinlich hatten sie dies gar nicht:
Hier sah er einen Fußabdruck in einer Blutlache, dort fiel ihm ein Stückchen Papier
ins Auge. Mit der unbestechlichen Akribie eines Künstlers, der sich dem Realismus
verschrieben hatte, skizzierte er alles, was er sah. Selbst diese Unreinheiten,
welche die Szenerie beeinträchtigten. Die sogenannten mildernden Elemente, die er
als Künstler ohne schlechtes Gewissen hätte einbauen können, fehlten ganz, und so
zeigten die Zeichnungen ein getreues Abbild der grauenhaften Wirklichkeit.
    Nach und
nach leerte sich der Ort des Verbrechens. Nachdem der alte Untersuchungsrichter
gegangen war, verließen auch die Gendarmen die Dachkammer. Gregor Haldern, den verstörten
Geliebten des Mordopfers, der in ärztliche Pflege gebracht werden sollte, musste
man stützen.
    »Armer Kerl«,
murmelte Theodor Görne und verabschiedete sich ebenfalls. Zurück blieben Bentheim,
der Kommissar und ein als Wache abgestellter Schutzmann. Alles wirkte einsam und
verlassen, als Gideon Horlitz die Tür zum Treppenhaus ins Schloss warf. Nun waren
sie weggesperrt von der Außenwelt, alleine mit dem Leichnam. Julius verfeinerte
ein paar Details, zog noch einmal die Striche des Koordinatennetzes nach, das er
über seine Bilder gelegt hatte, und reichte sein Werk dem Kommissar.
    »So was
ist viel nützlicher als diese teuren Fotografien«, bemerkte Gideon. »Bei diesen
Mustern tritt ganz deutlich die räumliche Komponente hervor. Vor Gericht kann das
entscheidend sein.«
    Julius,
der mit einem der Polizeifotografen auf gutem Fuß stand, griff das Stichwort auf
und erkundigte sich: »Wird Albrecht Krosick noch aufgeboten?«
    »Ihr Kommilitone,
nicht wahr?«
    »Ja, wir
studieren zusammen.«
    »Ich habe
nach ihm schicken lassen.« Mit einer abfälligen Geste zeigte er auf Lene Kulm. »Hoffentlich
trifft er ein, bevor die da zu riechen anfängt. Aber ich bezweifle, dass sich bei
diesen Lichtverhältnissen etwas machen lässt. Eine finstere Räuberhöhle ist das
hier.«
    Er betrachtete
die Bilder, die Julius gemalt hatte, und seufzte. »Eigentlich Talentverschwendung,
solche Motive malen zu müssen.«
    »Wem sagen
Sie das!«
    »Danke,
Bentheim. Sie können gehen. Legen Sie sich aufs Ohr. Die Nacht war anstrengend.
Sie brauchen Erholung.«
    »Es war
mir eine Ehre, Herr Kommissar. Das Protokoll von Ihrem Gespräch mit Goltz bringe
ich spätestens morgen ins Palais.«
    »Sie verwenden
die Gabelsberger-Schrift?«
    Julius bejahte.
    »Gut, geben
Sie mir die Blätter mit. Die kann ich selbst ins Reine schreiben. Und nun machen
Sie, dass Sie fortkommen«, meinte er freundlich und öffnete einen Spaltbreit die
Tür, um den Jüngling hinausschlüpfen zu lassen.
    Als Bentheim
den Heimweg einschlug, spukten die Bilder des geschundenen Frauenkörpers unablässig
in seinem Kopf herum. Sein Anzug war zerknittert, sein Hemd verschwitzt. Er erreichte
seine Studentenbude, ohne zu wissen, welche Strecke er genommen hatte. Einzig die
schreckliche Vision der Leiche erblickte er vor seinem inneren Auge. Sie wollte
einfach nicht verschwinden. Geistesabwesend schloss er die Fensterläden, um das
Zimmer abzudunkeln, und ließ sich angezogen aufs Bett fallen.
    Lange Zeit
fand er keinen Schlaf.
    Er starrte
an die Decke und überlegte. Wie konnte ein weltgewandter Akademiker derart unmotiviert
einen Mord begehen? Botho Goltz hätte höflich, zuweilen fast schon chevaleresk gewirkt,
wären da nicht seine blutverschmierten Hände gewesen, die in rasender Wut aus einer
jungen Frau einen abstoßenden Kadaver gemacht hatten. Da ihn schwindelte, schloss
er die Augen und unmerklich versank er in einen Zustand tiefer Traumlosigkeit.
    Am Spätnachmittag
wachte er auf. Er rasierte sich und erfrischte sich an einem mit kaltem Wasser gefüllten
Zuber. Zwei Vorlesungen hatte er an diesem Tag verpasst und er würde einiges nachzuholen
haben, doch im Moment kümmerte ihn dies wenig. Sein Kopf war leer von all den üblen
Gedanken, die ihn vor dem Schlafen noch geplagt hatten, und er verließ fröhlich
pfeifend sein Studentenzimmer.
    Julius Bentheim
wohnte in der Nähe der Friedrich-Wilhelms-Universität.
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