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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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Körper drehte,
bevor er sie herauszog. Ihr Blick war auf das rot umrandete Gesicht ihres Mörders
gerichtet, das mehr denn je an eine Teufelsfratze gemahnte. Bilder aus dem Schlachthaus
schwirrten ihr durch den Kopf: zerfetzte Muskeln, Sehnen und Gekröse. Ein weiteres
Mal stach der Mann zu, schnell und zielsicher. Diesmal traf er ihren Hals. Sie röchelte,
rang nach Atem, doch alles, was in ihre Luftröhre kam, war ein warmer Schwall Blut,
an dem sie erstickte.
    Botho Goltz
hielt die Leiche aufrecht, indem er sie in seine kräftigen Arme sinken ließ. Das
Wachstuch mit den Geldscheinen fingerte er aus ihrem Ausschnitt. Dann schleifte
er Lene zur Mitte des Flurs, wo er sie ablegte und mit Bedacht zehn weitere Stellen
aussuchte, an denen er ihr in aller Gemütsruhe sein Messer in den Leib stieß. Schließlich
tastete er ihre Röcke ab, bis er den Zimmerschlüssel fand.
    Danach stand
er auf und betrachtete sein Werk. Er rieb die Hände an der Hose trocken und schloss
Lenes Wohnungstür ab. Darauf wickelte er die Geldscheine aus und ließ das blutige
Tuch in der Tiefe des Lichtschachts verschwinden. Mit methodischer Exaktheit ging
er die Schritte noch einmal durch, die es zu beachten galt. Er nickte, wie um sich
zu vergewissern, dass alles planmäßig verlief, und betrat seine Mansarde …
    Kurz darauf
erschien er wieder auf dem Flur. Diesmal trug er ein sauberes Messer bei sich. Er
ging in die Knie und tauchte die Klinge in die Blutlache, die sich am Boden gebildet
hatte. Fröhlich pfeifend stand er auf, öffnete die Außentür zum Treppenhaus, um
nach dem Rehfuß zu greifen und die Glocke bimmeln zu lassen. Mitten in der Bewegung
hielt er noch einmal inne. Der Merkspruch von Martial kam ihm in den Sinn, dass
ein gutmütiger Mann stets ein Anfänger sei. Fast hätte er einen Fehler begangen.
Das zufriedene Lächeln, das auf seinem Gesicht auftauchte, war fast wieder verschwunden,
als er bei den Nachbarmansarden mit der Faust an die Tür hämmerte.
    Botho Goltz
hörte den schlurfenden Gang einer Person in Pantoffeln, dann das Geräusch eines
Türriegels. Eine fast 70-jährige Frau stand auf der Schwelle. Zwei senkrechte Furchen
zogen sich von der Nasenwurzel über ihre Stirn. Eine Brille baumelte an einem Bindfaden
vor ihrer Brust. Obwohl sie alt war und schlecht sah, war ihre Begrüßung ruppig:
»Wohl besoffen, was?«
    Der Professor
blickte sie treuherzig, fast schon um Verzeihung bittend an, als er das blutverschmierte
Messer vorwies und sagte: »Entschuldigen Sie die Störung, Gnädigste. Aber hätten
Sie die Güte, die Polizei zu benachrichtigen? Ich habe soeben Ihre Nachbarin ermordet.«

Zweites Kapitel
     
    Die Nachricht von Lene Kulms
Ermordung erreichte den Kriminalkommissar Gideon Horlitz in den frühen Morgenstunden.
Als der pausbäckige Polizeiaspirant, den man mit einer Eilnotiz geschickt hatte,
ihn endlich fand, war er gerade dabei, den Ort einer menschlichen Tragödie zu besichtigen.
Mehrere Leute schwärmten um ihn herum, die meisten in Uniform, angeregt diskutierend,
mit Maßbändern und Richtschnüren das Zimmer absteckend. Einer allein bewegte sich
nicht mehr: Er hing an einem Seil von der Decke, unter ihm ein umgekippter Stuhl.
    Die besagte
Gruppe hatte sich etwas außerhalb des alten Stadtkerns in einer jener Nebengassen
eingefunden, die nicht von Pferdekarren, Arbeitern und Bummelanten verstopft war.
Der Raum selbst, in dem die Männer den Selbstmord untersuchten, gehörte zu einer
Laube im hinteren Teil eines ausgedehnten Grundstücks, die ihrem Besitzer wohl als
Rückzugsort gedient hatte, um vom Wüten der Welt Erholung zu finden.
    Kommissar
Horlitz beugte sich vor, um die Arbeit seines Tatortzeichners besser betrachten
zu können. »Gute Arbeit, Bentheim. Da zeigt sich wieder mal Ihr Talent.«
    Julius Bentheim
sah kurz auf und lächelte dankbar. Er war 19 Jahre alt und verdiente sich dank seines
Talents ein Zubrot für sein Studium der Rechtswissenschaften. Mit dem Daumen fuhr
er auf dem Pastellpapier über eine Stelle, die er für schlecht gelungen ansah, und
verwischte einen kleinen Flecken Kohle. Er griff vorerst nach einem Kreidestift,
dann nach einem Wachsstift und verbesserte den Bildausschnitt. Hin und wieder riefen
ihm die Polizisten Längen- und Höhenangaben zu. Den Grundriss des Tatorts hatte
er im Maßstab 1:25 angefertigt und nun fehlten lediglich einige wenige Details,
um die Zeichnung zu vollenden.
    Bald war
seine Arbeit getan und er verfolgte konzentriert das Gespräch
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