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Die dunkle Muse

Die dunkle Muse

Titel: Die dunkle Muse
Autoren: Armin Oehri
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Tagen gefragt.
    »Er ist
reich. Sieh dir doch nur mal seine Kleidung an. Vielleicht ist die Dachwohnung hier
sein kleines Geheimnis.«
    »Du meinst,
er bringt seine Weiber hierher?«
    »Oder seine
Männer.«
    »Ja, oder
seine Männer«, hatte Gregor wiederholt und hämisch gegrinst.
    Lene lächelte
bei dem Gedanken an dieses Gespräch und blieb vor der Fensterbank des Lichtschachts
stehen. Die Scheibe war zersplittert, sodass ein milder Lufthauch hereinwehte. Sie
öffnete das Fenster und spähte in die Tiefe, die ihr wie der gurgelnde Rachen eines
Ungeheuers vorkam. Ausnahmsweise war nichts zu spüren von den Gerüchen, die sonst
von den vermodernden Abfällen der Hausbewohner ausgingen. In den unteren Etagen
beschwerten sich die Leute ständig darüber, dass der Kehricht aus den oberen Stockwerken
einfach im Lichtschacht verschwand.
    Lene überlegte
einen Moment, dann zuckte sie die Achseln. Kurz entschlossen wühlte sie sich durch
mehrere Schichten Unterröcke und löste die Riemen ihres Hygienegurts, den sie um
Bauch und Beine geschnallt hatte. Nach einigen Handgriffen zog sie einen wollenen
Lappen hervor, auf welchem die mit Menstruationsblut verklebten Moosballen lagen.
Sie übergab die Binde dem Schacht und vernahm noch, wie sie an die Wand klatschte,
bevor sie von der Schwärze des Schlundes verschluckt wurde.
    Ihre Mutter
hatte stets versucht, ihr die überalterte Gepflogenheit einzubläuen, sich während
der Periode nicht zu waschen. Doch der Geruch von zersetztem Blut war Lene ein Gräuel.
Nachdem sie die Hand prüfend an die Nase gehalten hatte, wischte sie sie am Fensterbrett
ab und wich einen Schritt zurück, um das Fenster zu schließen. Der Rahmen krächzte
ein wenig und in den Scherben spiegelte sich die von hinten beleuchtete Silhouette
eines Mannes wider. Kaleidoskopartig formten die Glassplitter eine Fratze mit roten
Haaren und feurigem Bartwuchs.
    Erschrocken
fuhr Lene herum.
    Im Türrahmen
der Nachbarmansarde stand eine korpulente, in einen vornehmen Herrenanzug gewandete
Person. Die graue Hose mit den anknöpfbaren Hosenträgern besaß die gleiche Farbe
wie der lange Gehrock, während die Weste des Mannes aus gemusterter Seide das elegante
Bild vervollständigte. Einzig das wulstige Gesicht des Fremden war mit seinem galligen
Teint nicht eben dazu angetan, Vertrauen einzuflößen. Sogar die Augen wirkten eher
lüstern statt lebhaft. Doch als er die Stimme erhob, war sie sanft und schmeichelnd
und nahm Lene die Befangenheit.
    »Verzeihen
Sie mein stilles Einmischen in Ihre persönlichen Angelegenheiten, wertes Fräulein
Kulm«, begann der Mann. »Ich hätte mich bemerkbar machen sollen. Ein unverzeihlicher
Fehler. Habe ich Sie erschreckt?«
    Wortlos
schüttelte Lene den Kopf. Sie fühlte sich unwohl, ertappt, und irgendwie genierte
sie sich vor diesem geschmackvoll gekleideten Herrn von Welt.
    »Sie sind
Fräulein Kulm, ich gehe doch richtig in der Annahme?« Seine fleischigen Backen verzogen
sich, während er lächelnd an sie herantrat. In der Hand hielt er ein dunkelbraunes
Bündel, wohl ein altes Kleidungsstück, das er an den Jackenärmeln zusammengeknotet
hatte. Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu, als er das Fenster noch einmal aufschwang
und das Stoffpaket aufs Fensterbrett stellte. »Wir haben alle unser Geheimnis, nicht
wahr, Fräulein Kulm? Sie verraten mich nicht, und ich verrate Sie auch nicht. Abgemacht?«
    Die Dirne
nickte. Sie betrachtete die zerknüllte Jacke. Ihr Freund besaß das gleiche Modell,
fuhr es ihr durch den Kopf, als der Mann dem Bündel einen Schubs gab und es in den
Schlund beförderte.
    Als ihr
Nachbar das Fenster wieder schloss, fiel ihr flüchtiger Blick auf die längliche
Holzkante und es war ihr, als wäre sie in rötliche Farbe getaucht. Instinktiv hob
sie die Hand, um zu prüfen, ob Blut zu erkennen war.
    Doch als
sich der Mann in seiner gestelzten Sprache ein weiteres Mal entschuldigte, holte
er sie wieder in die Wirklichkeit zurück: »Wertes Fräulein, ich bitte nochmals um
Vergebung. Es geziemt sich nicht, die Leute zu verunsichern, ich weiß. Ich bin unverbesserlich.
Und dennoch muss ich Sie – selbst zu so später Stunde – noch um zwei Gefallen bitten.
Sehen Sie, Fräulein Kulm, ich war heute Nachmittag bei ihrem werten Verlobten zu
Gast.«
    »Bei Gregor?«
    »Exakt,
bei Herrn Gregor Haldern. Sie müssen wissen, ich war in Verlegenheit, ich hatte
kein Messer.«
    »Kein Messer?«
Die Situation kam ihr immer grotesker vor.
    Der Mann
kraulte sich die
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