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Die Dunkelheit in den Bergen

Die Dunkelheit in den Bergen

Titel: Die Dunkelheit in den Bergen
Autoren: Silvio Huonder
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mit den Schuhen traten, bis Rauch das Wurstscheibchen endlich gefunden und sich in den Mund gestopft hatte. Bevor er auftauchte, schlug er sich den Kopf am Tisch an, dass die Becher wackelten. Dann setzte er sich wieder hin und verzog keine Miene. Als hätte seine Jagd niemand bemerkt. Die anderen lachten ihn noch einmal aus und vergaßen den Vorfall gleich wieder. Hostetter lachte nicht. Es tat ihm leid, dass Rauch es nicht einmal bemerkte, wenn über ihn gelacht wurde.
    Rauch und seine Angst, nichts zu essen zu bekommen. Als sie aus Graubünden weggegangen waren, hatten große Teile der Bevölkerung gehungert. Schuld waren Missernten und die gestiegenen Lebensmittelpreise. Kornlieferungen, die in Italien bestellt waren, blieben monatelang aus. Erst Jahre später wurde die Ursache für diese Hungersnot bekannt: Ein Vulkanausbruch im fernen Indonesien und seine gigantischen Aschewolken hatten Europa ein Jahr ohne Sommer beschert. In der Armee bekamen sie trotzdem genug zu essen. Und in den Krieg mussten sie während ihrer Dienstzeit nicht. Rauch hatte als Kind hungern müssen. Zu Hause in der dreizehnköpfigen Familie und dann bei den Schwaben. Seither hatte er eine tiefsitzende Furcht davor, es könnte einmal nichts mehr zu essen geben. Die Mahlzeiten waren ungeheuer wichtig für ihn. Seit sie auf Wanderschaft waren, drehte sich bei Rauch fast alles ums Essen. Was werden wir abends essen? Wo werden wir mittags etwas bekommen? Wann werden wir frühstücken? Er war nicht panisch, aber von einem organisatorischen Eifer getrieben, der Hostetter manchmal richtig quälte. Als wäre es das einzige, was den Menschen kümmern müsste! Ob er etwas im Bauch hat! Für Hostetter war es viel wichtiger, sein Leben nicht als Fußgänger zu verbringen, oder nicht ohne Weiber.
    Sie lagen im Heu, zwischen den Stämmen der Stallwand schimmerten schwache Lichtstreifen. War Rauch schon eingeschlafen? Er hatte die Frage noch gar nicht beantwortet, also musste Hostetter den Faden wiederaufnehmen: Ich meine natürlich die große Frau aus Dornbirn. Sag nicht, du hast ihren Namen vergessen.
    Franziska.
    Franziska? Etwas rundlich in der Körpermitte, aber ein stattliches Weib. Die hat dir wohl gefallen?
    Eine nette Person, antwortete Rauch nach einer längeren Pause.
    Eine nette Person? Mehr nicht? Wenn du in die Schmiedezunft aufgenommen werden willst, brauchst du eine Frau, Karli, ledig geht das nicht.
    Weiß nicht, sagte Rauch.
    Was weißt du nicht?
    Ob ich in Chur Arbeit finde. Vielleicht auch in einem anderen Ort. In Thusis oder Davos. Hufschmiede braucht es überall.
    Hat sie nicht gesagt, dass sie dich besuchen will?
    Lange Pause.
    Hast du doch behauptet, oder nicht?
    Ja.
    Wo wird sie dich überhaupt finden? Du weißt ja noch gar nicht, wo du unterkommen kannst.
    Sie kann bei meinem Onkel nach mir fragen, hab ich ihr gesagt, oder im Meerhafen.
    Der Meerhafen war eine Schenke im Süßen Winkel von Chur, in der sich die Säumer trafen. Hostetter stellte sich die verwinkelten Gassen vor, in denen er aufgewachsen war, und schlief ein.
    7 Ein großer Teil der Bevölkerung Graubündens litt unter der Armut, gleichzeitig verwilderten die Sitten. Die Obrigkeit der Stadt Chur sah sich genötigt, einen Aushang am Rathaus anzubringen und ihn außerdem am Sonntag in den Kirchen verlesen zu lassen. Darin gab sie ihrer Sorge Ausdruck, dass die kostspieligen und zerstreuenden Lustbarkeiten in der Stadt überhandnahmen. Die Wirtshäuser wurden allzu häufig aufgesucht. Die Sucht nach Glücksspielen führte zum Verfall vieler Haushalte und Gewerbe. Der verderbliche und anstößige Eindruck auf die ärmeren Volksklassen durfte nicht hingenommen werden. Auf das Bedürfnis der gegenwärtigen harten Zeit musste Rücksicht genommen werden. Die bessergestellten Bürger wurden aufgefordert, sich allen eitlen und überflüssigen Aufwandes in Kleidung, Essen, Trinken und Vergnügungen aller Art zu enthalten, vielmehr einen arbeitsamen, haushälterischen und zurückgezogenen Lebenswandel zu pflegen. Überdies sollten sich die begüterten Einwohner durch werktätige Teilnahme am Schicksal ihrer notleidenden Nebenmenschen hervortun.
    Der Rat der Stadt verbot deshalb bis auf weiteres alles Tanzen an Sonn- und Festtagen, sowohl in Wirtshäusern wie in Privathäusern, sei es bei Hochzeiten, an Jahrestagen oder sonstigen Anlässen, ohne eine Ausnahme bei Buße von zwanzig Pfund. Gestattet war das Tanzen an Werktagen bis neun Uhr abends, gegen eine Abgabe von zehn Pfund
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