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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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weniger kam es nun auch nicht an. Mit seinem Drachen lief der Junge die Gasse zum Tor hinunter, hinter dem links der Weg zur Bocciabahn abzweigte. Matteo Vannoni blieb auf der Piazzetta. Über die Steinbrüstung hinweg hatte er seinen Enkel gut im Blick. Er wandte sich an Franco Marcantoni: »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du ihn nicht ›Kleiner‹ nennen sollst. Er heißt Minh Son.«
    Franco Marcantoni brummte, ob man den Kleinen nicht Franco oder Marco oder Gabriele hätte taufen können, von ihm aus auch Eros, wenn es etwas Modernes sein sollte, aber Minh Son? Was sei denn das für ein Name?
    »Das ist ein vietnamesischer Name, das weißt du ganz genau«, sagte Vannoni.
    »Ich bin immer Internationalist gewesen«, sagte Franco. »Ich fand es damals völlig richtig, daß die Vietcong die Amis hinausgeworfen haben, aber wenn die Mutter des Kleinen Italienerin ist und sie hier in Italien leben, da könnte man ihm doch …«
    »Catia hat ihn nun mal so genannt«, sagte Vannoni. »Jetzt heißt er so, und ich will, daß er auch so angesprochen wird.«
    Bevor Franco antworten konnte, kam Ivan wieder auf Benito Sgreccias späten Frühling zu sprechen. Vannoni hielt sich zurück. Er wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Sich wie alle anderen das Maul darüber zu zerreißen, lehnte er schon deshalb ab, weil er selbst in längst vergangenenZeiten einmal Gegenstand des Dorfklatsches gewesen war. Damals, als die Geschichte mit Maria und Giorgio Lucarelli passiert war. Als er in seiner Verzweiflung das Gewehr aus dem Schrank geholt und abgedrückt hatte. Wieder und wieder. Manche hatten seine Tat verstanden, andere nicht. Beides hatte nichts geändert. Wenn Vannoni irgend etwas daraus gelernt hatte, dann, daß man selbst mit seinem Leben klarkommen mußte. Von ihm aus sollte der alte Sgreccia tun, was er wollte.
    Und doch merkte Vannoni, daß wie bei allen anderen Dorfbewohnern auch in ihm Fragen aufstiegen, Fragen, die bei jedem etwas anders lauten mochten, sich aber sogleich als die eigentlich entscheidenden gebärdeten: Was man denn selbst anfangen würde, wenn man unbegrenzt Geld zur Verfügung hätte? Was einem denn eigentlich wichtig war im Leben? Ob man dafür nicht schon längst etwas hätte tun sollen? Und warum, zum Teufel, man sich all diese Fragen erst jetzt zu stellen begann? Nur weil der alte Sgreccia beschlossen hatte, verrückt zu spielen?
    Minh war nun auf der Freifläche vor dem Bocciodrom angelangt. Er stellte sich mit dem Rücken zum Wind, spulte ein wenig Schnur ab, stülpte das ringförmige Handstück, an dem sie befestigt war, über den linken Unterarm und richtete den Drachen vorsichtig und konzentriert, ja fast andächtig über seinem Kopf aus.
    Der Maestrale blies aus Nordwesten, von der Dorfmauer weg, und er war stark genug. Um den Drachen in die Luft zu bringen, war es nicht nötig, gegen ihn anzulaufen. Der Wind schlüpfte unter das rote Seidenpapier, erweckte es zum Leben, und Minh ließ den Rahmen los. Es sah aus, als blähe der Drachen die Backen auf und überlege einen Moment, ob er wirklich fliegen oder am Boden zerschellen wollte, doch er schüttelte nur einmal unwillig den Kopf und stieg dann so schnell nach oben, wie Minh Leine nachgeben konnte. Vannoni vermochte sein Gesicht nicht zu sehen, aber er wußte, daß es nun fast erwachsenwirkte, obwohl Minh erst acht Jahre alt war. Nichts nahm ihn so gefangen wie ein Drachen im Wind. Stundenlang konnte er dastehen und nach oben schauen, auf ein Stück buntes Seidenpapier an einem Rahmen, das seinen Handbewegungen gehorchte, stieg und fiel, Kreise und Achten beschrieb, im Sturzflug …
    Da ertönte der Schrei. Ein gellender Schrei, der Vannoni durch Mark und Bein fuhr und den wahnwitzigen Gedanken auslöste, daß so nur ein japanischer Kampfdrachen aufheulen könne, wenn er im Sturzflug über seine Opfer kommt, doch der Drachen Minhs stieg schon wieder, es war auch die völlig falsche Richtung, und Vannoni wirbelte um seine Achse. Auf der Dachterrasse des Pfarrhauses stand das rothaarige römische Mädchen. Sie hatte die eine Hand vor den Mund geschlagen, als sei sie selbst über ihren Schrei zu Tode erschrocken, und mit der anderen Hand tastete sie nach dem Geländer.
    »Wilma, um Gottes willen!« Der alte Marcantoni war aufgesprungen. Auch Ivan Garzone rief irgend etwas. Die Rothaarige schwankte und setzte sich mit dem Rücken zu ihnen aufs Geländer. Marcantoni lief auf die Pfarrhaustür zu. Die anderen beiden folgten. So fanden sie
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