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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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Baumkronen laufen, denen Sgreccia mit den Augen folgte, bis sie oben über den Hügelkamm schwappten. Die Zweige schwangen zurück und hatten noch nicht ausgependelt, als sie die nächste Welle faßte.
    Vielleicht ist es das, was bleibt, dachte Sgreccia. Das Spiel der Elemente. Daß der Wind den Wald in Meer verwandelte.
    Sgreccia hustete. Ihm wurde nun doch kalt. Er spürte, wie sich trotz seiner Anzugjacke die Härchen an seinen Unterarmen aufstellten. Er hörte den Wind pfeifen und versuchte das Geräusch nachzuahmen. Ihm schien, daß der Wind lauter wurde. Vielleicht lachte er ihn auch aus.
    »Lach nicht!« sagte Benito Sgreccia leise. Er verschränkte die Arme vor der Brust, doch er wußte, daß ihm nicht mehr warm werden würde.
    Dann hauchte er sein Leben aus, und der Wind trug es aus dem Dorf, in dem Sgreccia geboren worden war, über den Friedhof hinweg und schwemmte es den gegenüberliegenden Hügel hinauf, wo es hinter dem Kamm verschwand.
    »Wer hat dich entführt?« fragte ich.
    Der Junge saß am Boden und zitterte, obwohl es nicht besonders kalt war.
    »Sag mir, wer es war!« sagte ich sanft.
    »Der böse schwarze Mann«, sagte der Junge.
    »Der mit den feuersprühenden Augen?«
    Der Junge nickte. Auf dem Steinboden neben ihm lag Seidenpapier. Rotes, schwarzes, gelbes.
    »Beschreib ihn mir!« sagte ich.
    »Er ist ganz schwarz angezogen und trägt eine Maske über dem Gesicht, aus der die Augen hervorglühen, und er ist groß und …«
    »Wie groß? So groß wie ich?« fragte ich.
    Der Junge schüttelte schnell den Kopf. »Nein, viel größer. Mindestens einen Kopf größer.«
    Ich wußte nicht, was ich ihm glauben konnte. Fünf Minuten später würde er vielleicht etwas völlig anderes behaupten. Man kann ja in das Hirn eines Menschen nicht hineinschauen. Entweder du traust ihm oder eben nicht. Ich halte mich eher an die zweite Variante: Wenn du dich auf andere verläßt, bist du schon verlassen. Wer hat das gleich gesagt?
    »Nimm doch eine Decke!« sagte ich zu dem Jungen.
    »Was?«
    »Weil du so zitterst.«
    »Ich zittere gar nicht«, sagte der Junge. Das war gelogen. Ich sah klar und deutlich, daß er zitterte.
    »Gut«, sagte ich. Es gibt immer mehr als eine Wahrheit. In seiner zitterte der Junge eben nicht. War es dieselbe Wahrheit, durch die ein böser schwarzer Mann mit feuerspeienden Augen tobte? Der Junge hatte Schreckliches erlebt. Ich mußte Geduld mit ihm haben. Alles braucht seine Zeit. Der Junge griff nach einem Bogen roten Seidenpapiers und faltete ihn über Eck. Er richtete die Kanten sorgfältig übereinander aus. Dann öffnete er den Bogen wieder und faltete ihn über die andere Diagonale.
    »Vertrau mir!« sagte ich. »Ich bin immer da. Darauf kannst du dich verlassen. Ich werde dem schwarzen Mann sagen, daß er dir nichts tun darf, weil du so ein braver Junge bist. Ich passe auf dich auf, jetzt und heute nacht und dein ganzes Leben lang. Das verspreche ich dir.«
    Der Junge begann zu weinen. Er tat mir fürchterlich leid.
    »Warum weinst du?« fragte ich.
    »Ich weine doch gar nicht«, schluchzte er.
    Da wußte ich, daß es nicht gut enden konnte.
    Sgreccias drei Tage Leben hatten damit begonnen, daß er Lidia Marcantoni um die Schlüssel fürs Pfarrhaus bat. Wie um seine Forderung zu bekräftigen, stand hinter ihm eine Leibwache von vier Frauen, die mit Besen, Staubsauger und Wischlappen bewaffnet waren. Lidia kannte keine von ihnen, und das bedeutete, daß sie nicht aus der Gegend stammen konnten. Schließlich lebte Lidia seit mehr als siebzig Jahren hier. Die Marcantonis waren eine alteingesessene Familie. Und eine der angesehensten in Montesecco, auch wenn Lidias Geschwister ihrer Meinung nach den Ruf der Familie nicht sehr förderten. Doch solange Lidia atmete, würde sie das Schlimmste zu verhindern wissen.
    »Die Schlüssel?« fragte sie ablehnend. Schon seit Ewigkeiten stand das Pfarrhaus leer. Der Pfarrer kam nur noch sporadisch aus Pergola, um die Messe zu lesen. Er brauchte jemanden in Montesecco, der ab und zu nach dem Rechten sah. Jemand Besseren als Lidia Marcantoni hätte er dafür nicht finden können. Sie hütete das ihr anvertraute Eigentum der Kirche, als hinge ihr Seelenheil davon ab.
    »Die Schlüssel fürs Pfarrhaus? Warum?« fragte sie.
    »Wegen dem Saal im ersten Stock.«
    »Das ist kein Saal, das ist ein großes Zimmer. Und was willst du dort überhaupt?«
    »Erst mal saubermachen.« Sgreccia wies mit dem Daumen auf die Putzkolonne hinter sich.
    »Und
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