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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco
Autoren: Bernhard Jaumann
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Benito Sgreccia, der zweiundachtzig Jahre hinter sich gebracht, dann drei Tage gelebt hatte und seit ein paar Stunden tot war. Friedlich lag er in einem weiß bespannten Liegestuhl, die Arme vor der Brust verschränkt, der Kopf nach vorne gesunken, so daß der Wind in seinem schütteren weißen Haar spielte, als wolle er sich nicht damit abfinden, daß Benito sich nie mehr rühren würde. Die Lippen waren blaß, die Falten in seinem Gesicht schienen noch tiefer geworden zu sein, und die Augen blickten leer auf das Geländer des Pfarrhausdachs. Vannoni sah zu den weißen Wolken auf, die hoch über ihm dahinzogen. Dann schloß er dem Toten die Lider.
    Irgendwer rief den Arzt an, irgendwer holte Sgreccias Sohn. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile, Nachbarn kamen vorbei, um zu fragen, ob sie irgendwie von Nutzen sein konnten, das Pfarrhaus füllte sich. Als der Arzt erschien, stellte er offiziell fest, was offensichtlich war, den Tod Benito Sgreccias nämlich. Auf den Totenschein schrieb er Altersschwäche und Herzversagen, wie immer, wenn keine andere Ursache zu erkennen war.
    »Ein schöner Tod!« murmelte man, wie immer, wenn ein Alter ohne lange Qualen aus dem Leben schied. Dann trugen die Männer den toten Körper nach drinnen und betteten ihn auf das rote Ledersofa, weil das Wasserbett dafür dann doch nicht geeignet schien. Damit die nächsten Angehörigen Totenwache halten konnten, wurden davor ein paar Stühle aufgereiht. Es waren Jugendstilstühle mit grüner Polsterung und fein geschnitztem Rückenteil, an das sich niemand zu lehnen wagte. Wie immer wurden Kerzen angezündet. Franco Marcantoni holte dafür die beiden fünfarmigen Leuchter vom Eßtisch. Er stellte einen auf dem riesigen Fernsehapparat, den anderen auf dem schwarzen Klavier ab. Der von Benito engagierte Pianist bot flüsternd an, ein paar melancholische Improvisationen zum besten zu geben, wurde aber von Marisa Curzio des Raumes verwiesen. Angelo Sgreccia bekam davon nichts mit. Er saß mit versteinertem Gesicht da, Elena stand hinter der Stuhllehne und hatte beide Hände auf die Schultern ihres Mannes gelegt. Lidia Marcantoni murmelte ein Gebet vor sich hin, dessen Worte nicht zu verstehen waren.
    Was zu tun war, wurde getan. Wie immer. Man versuchte, der Unfaßbarkeit des Todes mit dem Ritual, das sich dafür herausgebildet hatte, zu begegnen, und doch war alles ein wenig anders als sonst. Man spürte durchaus den Schmerz und den Ernst, der einem solchen Schicksalsschlag gegenüber angebracht war, aber wie hinter einem Schatten, der von etwas Fremdem geworfen wurde. Vielleicht lag es an der unangemessenen Einrichtung und dem von Sgreccia angeheuerten Personal, das sich zwar inabgelegene Zimmer zurückzog oder verlegen an die Wand drückte, wenn es einem der Dorfbewohner auf der Treppe begegnete, das aber doch da war und keine Anstalten machte, das Pfarrhaus zu verlassen. Vielleicht hatte sich über das Haus auch der Schatten der vergangenen drei Tage gelegt, in denen der alte Sgreccia durch seine unbegreifliche Maßlosigkeit einen Wall zwischen sich und den anderen aufgeschüttet hatte. Hatte er dabei zu viele neue Fragen losgetreten, die jetzt durch die Zimmer und die Gedanken schwirrten und es der Trauer unmöglich machten, sich ungestört einzurichten?
    Man merkte das nicht nur bei Franco Marcantoni, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den drei Römerinnen und speziell Wilma zur Seite zu stehen. Jemand müsse das ja übernehmen, denn allein komme so ein junges Ding nicht klar, wenn es völlig unvermutet mit dem Tod konfrontiert werde. Er sei sich sicher, sagte Franco später, das sei ganz im Sinne des alten Sgreccia gewesen, denn schließlich habe dieser ja die drei für seine letzten Lebenstage engagiert, was ja wohl bedeute, daß sie ihm am Herzen gelegen hätten.
    Normalerweise hätte es sich keiner der anderen nehmen lassen, Franco unter die Nase zu reiben, daß Wilma augenscheinlich vor allem ihm selbst ans Herz gewachsen war, doch sie alle spürten, daß es ihnen im Grunde nicht anders ging. Drei Tage hatten nicht ausgereicht, um den alten Sgreccia als Fremden zu sehen, aber doch, um so viel Distanz zu schaffen, daß darin neben dem Schmerz um den Toten noch genug Platz für die eigenen Probleme und Sehnsüchte, Ängste und Wünsche blieb. Denn der alte Sgreccia würde in ein paar Tagen begraben sein, doch man selbst lebte weiter und mußte schauen, wo man blieb und wie man ein wenig mehr aus diesem Leben machen
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