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Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
Autoren: Sebastian Keller
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und Truhen zu finden und meistens wurde danach Feuer gelegt, um den Rückzug zu decken. Wer mit Löschen beschäftigt war, hatte keine Zeit Banditen zu verfolgen. Aber hier …
    Wie betäubt ging Erich in eine der Gassen die vom Marktplatz wegführten und stieß auf eine weitere Leiche. Es war Oswy, der Gehilfe des Schmieds. Erich hatte ihn noch nie besonders leiden können und hätte ihn jetzt beinahe nicht erkannt, so übel war er zugerichtet. Aber auch er trug den Halsreif aus Messing. Rohe Gewalt hatte ihn zusammengedrückt und die Enden in Oswys Kehlkopf getrieben. Er saß zusammengesunken an einer Hauswand, ganz so wie er gestorben sein musste. Vier parallel verlaufende Schnitte zogen sich über seinen Bauch und seine Brust und setzten sich weiter oben als blutige Streifen fort, wo der Angreifer mit seiner Waffe die Hauswand getroffen und das Blut in den Kalk gesickert war. Erich musste sich abwenden, denn der Anblick drang selbst in seinem halb betäubten Zustand bis in sein Innerstes vor und schlug dort an die Tore hinter denen sein Mitgefühl und die Angst vor seinem eigenen Ende warteten. Erich war oft dabei gewesen, wenn ein Schwein oder eine Kuh geschlachtet worden war. Er konnte den Anblick von Blut ertragen, aber das hier war etwas anderes. Eine Schlachtung war blutig, keine Frage, aber der Metzger des Dorfes hatte das Tier innerhalb einer Stunde säuberlich zerlegt und weiterverarbeitet ohne die inneren Organe zu verletzen. Oswy hingegen lag hier schon eine Weile in seinem Blut und den anderen Flüssigkeiten, die der menschliche Körper nach dem Tod ausschied und inzwischen umkreisten ihn Fliegen und Wespen. Erich würgte. Er wusste, dass bald Maden die fahle Haut erobern würden, wenn Oswy hier liegen blieb. Wenn nicht schon vorher Füchse oder andere Aasfresser den Körper geholt hätten. Vor einem Jahr hatte er ein totes Reh im Wald gefunden und so lange beobachtet, bis nichts als die Knochen übrig geblieben waren.
    Erich wollte sich abwenden, doch wie bei dem Reh gewann die morbide Faszination für den Anblick der Leiche die Oberhand und er warf einen weiteren Blick auf den jungen Mann. Beim Angreifer musste es sich um ein wildes Tier gehandelt haben, viel kleiner als ein ausgewachsener Bär, denn die Klauenspuren endeten nur eine Armlänge oberhalb von Erichs Kopf. Was mochte es wohl gewesen sein? Welches Tier war zu so etwas fähig? Es musste krank gewesen sein. Oder verletzt. Tollwütig. Oder war an den Geschichten über Trolle und Drachen doch etwas Wahres dran?
    Erich warf einen letzten Blick auf Oswy und ging dann mit einem flauen Gefühl im Magen weiter. Was würde er noch zu sehen bekommen? Ohne darüber nachzudenken, hatte er den Weg zu seinem Elternhaus eingeschlagen und je näher er ihm kam, desto schneller wurden seine Schritte. Auf seinem Weg musste er immer mehr Leichen ausweichen. Auf Schritt und Tritt erkannte er bekannte Gesichter wieder, die mit leblosen Augen heraus ins Nichts starrten. Eine Spur von Toten schien ihn geradewegs zu seinem Haus zu führen. Ihre toten Augen glotzten ihn an, ihre verkrampften Hände schienen nach ihm zu greifen. Wie in Trance lief er weiter, bis er plötzlich bemerkte, dass sich eines der Augenpaare bewegte und seiner Bewegung folgte.
    Pfeifend und mit einem widerwärtigen Blubbern, das Erich die Tränen in die Augen trieb, versuchte Ethel, das Dorfoberhaupt, zu Atem zu kommen. Er hielt noch immer sein schartiges Langmesser in der Hand, das, so lange Erich ihn kannte, immer unberührt über der Schlafstelle in seiner Hütte gehangen hatte. In der Nähe lag auch sein kleiner Rundschild, der ihn nicht hatte retten können. Er wusste nicht, was ihn mehr erschreckte: dass er Ethel sterbend daliegen sah, oder dass der Mann, der sich so vehement gegen jegliche Gewalt eingesetzt hatte, eine Waffe in der Hand hielt.
    Erich stürzte heran, um zu fragen, was hier passiert war, aber als er den alten Mann erreichte, wurde der von einem Krampf geschüttelt und konnte ihn nur noch mit schreckgeweiteten Augen anstarren, bevor er mit einem letzten Schaudern in sich zusammensank.
    Erich schrie auf. Er musste einfach schreien. Mit einem gewaltigen Klagelaut machte er seiner Verzweiflung Luft und zuckte zusammen, als das Echo aus den leeren Gassen widerhallte. Noch einmal brüllte er wortlos gegen die klamme Kälte in seinem Inneren an, dann wurde er still.
    "Vater! Mutter!", keuchte er heiser und stolperte über die wie Puppen hingeworfenen Leiber seiner toten
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