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Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)

Titel: Die Chronik der Hürnin (Das Alte Reich)
Autoren: Sebastian Keller
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anderen unterschied? Und legte man im Dorf nicht großen Wert darauf andere zu akzeptieren, wie sie waren?
    Man setzte die Alten schließlich nicht im Wald aus, wie es andernorts in harten Wintern Sitte und Brauch war und man hatte auch keinen Pranger, an den man Diebe stellen konnte. Man gab ihnen stattdessen lieber etwas zu essen und ließ sie am Leben und an der Arbeit im Dorf teilhaben. Ja, so war es, und dennoch hatte sich Erich nie ganz heimisch im Dorf gefühlt. Schon nicht bevor er von seiner Adoption erfahren hatte und danach erst recht nicht.
    Vielleicht lag es daran, dass dieses Dorf noch jung war, nicht viel älter als er selbst, also zwölf oder dreizehn Jahre und ein Ort für Menschen, die sich nicht damit abfinden wollten, wie das Leben im Rest des Landes gelebt wurde. Man sprach nicht oft darüber, aber den Andeutungen, die ab und zu hinter vorgehaltener Hand zu hören waren, konnte er entnehmen, dass sich jeder der Dorfbewohner hier eingefunden hatte, um dem neuen Herrscher zu entgehen, der im Süden seit etwa einem Jahrzehnt immer mehr Ländereien und Bewaffnete unter seinem gehörnten Banner vereinigte. Sie nannten ihn den Scharif.
    Die Leute im Dorf waren froh seiner Knute entronnen zu sein. Sie sangen viel, sie sprachen miteinander, anstatt sich zu schlagen und sie lebten ohne alles was die Sinne benebeln konnte. Erich wusste, dass das gut so war, denn hin und wieder kam es vor, dass ein Halbstarker die Regeln der Gemeinschaft brach und sich von irgendwo her eine Flasche mit vergorenem Saft besorgte, um sich daran zu berauschen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass man diese Erfahrung mehr als ein Mal in seinem Leben machen wollte. Die jungen Männer hatten sehr laut und sehr falsch gesungen, bevor sie sich erbrachen wo sie gerade standen und dann mehrere Tage krank waren.
    Das alles wusste Erich, aber er hatte nie so recht verstanden, was seine Adoption eigentlich bedeutete. Für ihn hatte es nie einen großen Unterschied gemacht, ob er nun adoptiert war oder nicht. In seinem Dorf waren er nicht das einzige Adoptivkind.
    Ethel war der erste, der sich hier ein Stück Wald gerodet hatte und nach und nach waren die anderen dazugekommen, hatten sich eine Hütte gebaut und Kinder bekommen, oder sie hatten Streuner bei sich aufgenommen, die den Weg hierher gefunden hatten. Es war nicht ohne Spannungen zugegangen, aber die Leute hier waren zufrieden gewesen und sie hatten ein selbstbestimmtes Leben gelebt – bis zu ihrem abrupten Ende.
    Plötzlich kam ein leichter Wind auf, der Staub durch die Gassen trieb und ihn zu immer höheren Wolken auftürmte, bis diese schließlich wie die fahlen Geister der Verstorbenen herumtrieben. Erich sprang auf. Die Arme schützend vor das Gesicht geworfen, begann er zu laufen. Immer dem Wind entgegen, der mit jedem Augenblick stärker zu werden schien, bis er schließlich wie ein Sturm tobte und wütend mit Türen und Fensterläden knallte. Wie ein Rachegott schien es der Wind auf den Jungen abgesehen zu haben und so lief er, bis er nicht mehr weiter konnte. Der Wind blieb hinter ihm zurück und bedeckte das Dorf mit einem fahlen Leichentuch aus Staub. Erich sah es nicht, denn er stolperte über die noch nicht abgeernteten Felder bis zum Waldrand, wo er erschöpft stehen blieb. Der Wind peitschte das reife Korn zu Wogen aus Gold auf und drückte es nieder, aber an Erich, der nun im Schutz der Bäume stand, schien er das Interesse verloren zu haben. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht verrückt werde.“, sagte Erich schnaufend zu sich selbst.
    Ich stimmte ihm zu.
    Mit einem gellenden Schrei fuhr er herum, stolperte über eine Wurzel und stürzte zu Boden.
    „Geh weg! Tu mir nichts!“, rief er und kroch auf allen Vieren von mir fort.
    „ Nein, mein Herr. ", antwortete ich sanft. „ Ich bin nur hier, um Euch zu dienen.“ „Verschwinde, du Dämon!", brüllte er und ich tat, was er mir befohlen hatte. Aber ich blieb in der Nähe. Unsichtbar und jeden seiner Schritte im Blick behaltend.
    Zitternd kam Erich wieder auf die Beine. Sein Puls raste und er sah aus, als könnte er jeden Moment wieder ohnmächtig werden, aber er hielt sich tapfer an einen Baum gelehnt aufrecht. Dann ging er ohne sich noch einmal umzusehen in den Wald hinein. Das war gut so. Ich war überzeugt, dass er es schaffen würde.
    Es gab einen Pfad, der vom Dorf zur nächsten Ortschaft führte, aber der lag in einer ganz anderen Richtung. Außerdem wollte Erich gar nicht in die nächste Ortschaft.
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