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Die Buecherfluesterin

Die Buecherfluesterin

Titel: Die Buecherfluesterin
Autoren: Anjali Banerjee
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einer Möwe ermahnt mich, den Kopf nicht hängen zu lassen und Rob diese Genugtuung nicht zu gönnen.
    Also straffe ich die Schultern und reihe mich in die Herde der Passagiere ein, die die Rampe hinunter zur Harborside Road schlurfen. Die von gusseisernen Laternenmasten und riesigen alten Pappeln gesäumte Straße schlängelt sich am Ufer entlang und verschwindet dann im silbrig schimmernden Dunst. Ich male mir aus, wie ich in diesen Dunst hineingehe und auf der anderen Seite eine neue Welt betrete, in der Ehemänner keine Affären haben und in der zwei Menschen die Zeit zurückdrehen und sich wieder ineinander verlieben können, anstatt sich wehzutun. Allerdings weiß ich, dass das unmöglich ist. Die Zeit bewegt sich nur in eine Richtung. Also muss ich weiter zum Buchladen meiner Tante marschieren, obwohl meine Absätze sich nicht für kopfsteingepflasterte Gehwege eignen und mein Mantel für dieses Wetter zu leicht ist.
    Seit meinem letzten Besuch vor einem Jahr hat sich in der Stadt nichts geändert. Fahrradgeschäft. Chiropraktiker. Optiker. Spielsteine für jedes menschliche Bedürfnis. Nimmst du einen in die Hand, hast du schon verloren. Im Fenster des Fairport Café, wo die Einheimischen Gerüchte und Kochrezepte austauschen, hängt ein Schild, das für den Kuchenbasar der Rotarier wirbt.
    Ich weiß nicht, wann ich zuletzt Zeit hatte, ein Kochbuch aufzuschlagen. In Los Angeles haben Rob und ich uns von Fast Food ernährt, ein Geheimnis, das meine Mutter sicher verärgern würde. Sie findet, dass jede gute bengalische Tochter so sein sollte wie meine Schwester Gita, deren Spezialität Fischcurry ist. Ich hingegen kann mich kaum erinnern, wie man Wasser kocht. Und da ich nun bei meinen Eltern wohnen werde, wird es schwierig sein, meine Lücken in diesem Bereich zu tarnen.
    Und so steuere ich auf den Buchladen meiner Tante zu, der sich sechs Häuserblocks entfernt vom Wasser befindet. Es ist ein zweistöckiges ockerfarben und weiß gestrichenes viktorianisches Haus im Queen-Anne-Stil. Als ich näher komme, rennt gerade ein kleines Mädchen weinend zur Tür hinaus. Ihre Mutter folgt ihr.
    » Aber ich will Curious George!«, jammert das kleine Mädchen.
    » …ein andermal«, sagt ihre Mutter und verfrachtet das Kind in einen VW Käfer.
    Vor dem Buchladen bleibe ich stehen. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Auf quengelnde Kinder bin ich nicht vorbereitet. Außerdem habe ich vergessen, wie groß das Haus ist. Und wie verschachtelt. Eine Ansammlung von Panoramafenstern, Türmchen und dazu eine ums ganze Gebäude herum verlaufende Veranda. Aus der Nähe betrachtet treten Anzeichen der Vernachlässigung deutlich hervor. Am Geländer blättert die Farbe ab. Am Dach haben sich einige Schindeln gelockert. Meine Tante sollte renovieren, streichen und eine Neonreklame ins Fenster hängen.
    Ich hole tief Luft und ziehe meinen Koffer die enge Treppe zur Hintertür hinauf, die inzwischen der Eingang zum Buchladen ist. Ein ausgetretener Pfad führt ums Haus herum zur kunstvoll verzierten Vordertür, die zum Wasser zeigt– Erinnerung an eine vergangene Zeit, als wichtige Gäste noch mit dem Schiff eintrafen. Ich bezweifle, dass wichtige Leute inzwischen auch nur die Schwelle überschreiten.
    Als ich die Tür öffne, wehen mir leise Stimmen entgegen. Die Wörter verschmelzen miteinander, ändern dann ihre Meinung und schweben davon. In der Vorhalle ist es bis auf das schwache orangefarbene Schimmern einer Tiffanylampe dämmrig. Ich werde ein paar hellere Lampen anbringen.
    Die schwere Tür fällt hinter mir ins Schloss und sperrt die Welt aus. Der Zitronengeruch von Möbelpolitur mischt sich mit Staub; der Dunst von Mottenkugeln hängt schwer in der Luft. Einen Monat in dieser stickigen Atmosphäre, umgeben von nutzlosen Antiquitäten und vergriffenen Buchtiteln werde ich bestimmt nicht überleben.
    Und dann dieser Krimskrams! Meine Tante hat alles flächendeckend zugestellt. Links von mir ziert ein staubiger Teppich aus Kaschmir, der in gedeckten Rot- und Goldtönen den Baum des Lebens darstellt, die Wand. Vielleicht hat das Licht ja geflackert oder Ganesh, der elefantenköpfige Gott der Hindus, spielt mir einen Streich. Jedenfalls sitzt die Messingstatue rechts von mir und wartet darauf, die Kundschaft zu verscheuchen. Meine Tante sollte hier die neuesten Bestseller ausstellen, keine Statuen.
    Dennoch strecke ich unwillkürlich die Hand aus, um Ganesh den gewaltigen Wanst du reiben. Er wird mich mit einem Bann belegen, weil
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