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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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das Gefühl, allein zu sein. Es war kühl, aber der Himmel sehr blau, also öffnete sie das Verdeck und drehte die Stereoanlage auf.
    Gouchie, Gouchie, ya ya dada!
    Die vier Tage waren noch nicht ganz herum. Aber aus irgendeinem Grund, der mit dem blauen Himmel, der kühlen Morgenluft oder der Sonntagsstille zu tun haben mochte, war sie sicher, dass sie keine Candida mehr bekommen würde. Während sie im Handschuhfach nach einer Sonnenbrille kramte, erschien ihr der Gedanke, sie könnte sich mit einer Krankheit infizieren, die Carola ihr an den Hals wünschte, nur noch lächerlich.
    Tessa parkte den Wagen in der Straße, die südlich am Park entlangführte, schlug sich durch die drei Haselbüsche, durch die sie sich immer schlug – seit einigen Wochen bildete sie sich ein, die Spuren davon zu sehen –, und trabte los. Der vordere Teil des Parks war so zivilisiert, wie es sich für einen großen Park im Zentrum einer großen Stadt gehörte. Es gab Ententeiche und Blumenbeete und Liegewiesen und Getränkebuden. In ein paar Stunden würden die Familien herkommen, um Ball zu spielen, ein letztes Mal in der Sonne zu liegen und hinter ihren Kindern herzubrüllen. Noch war der Park verlassen. Auf dem Weg am anderen Ende der Liegewiese sah Tessa einen zweiten Jogger traben. Sie kam nur morgens in den Park. Früher war sie manchmal auch nachmittags oder abends hier gelaufen. Bis die Geschichte mit der dicken Frau und den dicken Töchtern passierte. Ein vielleicht zehnjähriges, fettes Mädchen war hinter ihr hergerannt.
Frau Simon,
hatte es gerufen,
meine Mutter will ein Foto machen!
Und Tessa war stehen geblieben und hatte nicht gewusst, ob sie die Sonnenbrille abnehmen sollte oder nicht. Und dann kam auch schon die Mutter herangeschnauft.
Das ist aber ein Glück, dass meine Jutta Sie noch erwischt hat
.
Das hab ich mir schon gedacht, dass Sie eine Sportliche sind
. Tessa lächelte, als die Frau sich neben sie stellte und die jüngere Tochter an ihre rechte Seite schob, lächelte, als sie die billige Küche roch, die unlüftbar in den weiten T-Shirts und Leggings hing, und lächelte, als ein Passant auf dem billigen Knipsapparat der Frau zwei Fotos schoss. Am Abend hatte Tessa ihrem damaligen Liebhaber von dem Zwischenfall erzählt, sie hatten beide die Gläser gehoben und über den Preis des Ruhmes gelacht. Dennoch war sie nie wieder nachmittags joggen gegangen.
    Tessa lief an der Minigolfbahn vorbei, die um diese Uhrzeit noch geschlossen war, und spürte, wie die Adrenaline und Endorphine in ihrem Körper das Kommando übernahmen. Nach einigen hundert Metern wurden die Bäume dichter, die Wege matschiger. Sie hatte den düsteren Teil des Parks erreicht. Die Familien mit den Kindern kamen nur selten hierher. Nachts gehörte der Park den Schwulen und Strichern. Ein paar Sonnenstrahlen schoben sich durch das Blätterdach. Sie kam an dem Kreuz vorbei, das am Wegrand stand. Ein Jogger war letzten Winter hier erstochen worden. Einen Tag nach Weihnachten, sehr früh morgens. Monatelang hatten im Park Plakate der Polizei gehangen.
Wer hat etwas gesehen? Wer hat etwas gehört? Wer kann etwas sagen?
Der Frühling war gekommen, und die vergilbten Plakate hatten noch immer an den Baumstämmen gehangen. Im Sommer hatte sich jemand ihrer erbarmt und sie abgehängt.
    Neben dem Kreuz brannte wie immer eine Kerze. Aus ihrer Mittelstufenzeit, in der Friedhofskerzen im roten Plastikbecher eine beliebte Partybeleuchtung gewesen waren, konnte sich Tessa erinnern, dass sie höchstens eine Nacht brannten. Wer hatte Zeit, alle zwölf Stunden in diesen Wald zu kommen und die Kerzen auszutauschen? Die Familie musste diesen Mann sehr geliebt haben. Neben der Kerze lag ein einziger Strauß Chrysanthemen. Das Blumenmeer, das es anfangs hier gegeben hatte, war verebbt. Längst war an einer anderen Stelle der Stadt ein anderes unschuldiges Leben ausgelöscht worden, das nach Blumengaben verlangte. Mit Sebastian zusammen hatte Tessa neulich im Fernsehen verfolgt, wie die Leiche des Schulkindes, das seit drei Wochen als vermisst gegolten hatte, aus einem Baggersee gezogen worden war.
Kondolenzparasiten,
hatte Sebastian gesagt, als er gesehen hatte, wie die Menschen zu dem Baggersee kamen, um Blumen abzulegen und zu weinen, als seien sie alle Eltern, Brüder, Geschwister des toten Kindes gewesen. Tessa hatte ihm widersprochen. In Zeiten, in denen ein Leben erst durch die Titelseiten der Magazine zu etwas Bedeutungsvollem wurde, verstand sie die
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