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Die Brut

Titel: Die Brut
Autoren: Thea Dorn
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gekommen?«
    »Er hat die Prinzessin von zweien seiner Windhunde verfolgen lassen. Und die haben ihm berichtet, dass sie auf dem Weg zur Beerdigung der Troubadourin war. Leider haben die Windhunde die Prinzessin im Gewühle aus den Augen verloren.«
    »Warum hat der Wolf das Grab nicht öffnen lassen, wenn er so sicher war, dass er das Kind der Prinzessin dort finden würde?«
    »Die Troubadourin war keine einfache, sondern die beliebteste Troubadourin des ganzen Königreichs gewesen. Und der Wolf hätte stärkere Beweismittel in der Hand haben müssen, damit ihm der oberste Richter erlaubt hätte, die Totenruhe der Troubadourin zu stören.«
    »Und das zu Recht.« Die Frau schaute dem Mann in die Augen. »Der Wolf hat sich schließlich auch geirrt. Denn ist nicht am Schluss das Kind zu der Prinzessin zurückgekehrt?«
    Der Mann lachte leise. »Ist es das wirklich?«
    »Sicher. Eines Nachts hat es auf der Schwelle des Schlosses gelegen.«
    »War das wirklich das Kind der Prinzessin?«
    »Ja. Und falls ihr jemals Zweifel daran kamen, musste sie nur das Mal betrachten, dass das Kind auf der Stirn hatte.«
    »Male lassen sich fälschen. In allen Zeitungen des Königreichs war darüber berichtet worden, dass sich das Kind der Prinzessin seine Stirn an der Sitztruhe des Zeremonienmeisters aufgeschlagen hatte.«
    Die Stimme der Frau wurde etwas lauter. »Der Wolf glaubte wirklich, diese arme Kindsdiebin hätte ihrem eigenen Kind die Stirn aufgeschnitten, nur um es später als das Kind der Prinzessin ausgeben zu können?«
    »Es gibt Mütter, die haben noch verzweifeltere Dinge getan.«
    Die Frau trat einen Schritt zurück. »Warum hat der Wolf keinen DNA-Test machen lassen, wenn er so sicher war?«
    »Hätte der Wolf das tatsächlich tun sollen? Was hätte er davon gehabt? Vielleicht hätte er beweisen können, dass das Kind, das die Prinzessin in der Winternacht auf der Schwelle ihres Schlosses gefunden hatte, nicht ihr Kind, sondern das Kind einer verwirrten Untertanin war, die sich getötet hat. Den Mord hätte er der Prinzessin damit jedoch immer noch nicht nachgewiesen. Alle im Königreich hätten verstanden, dass die arme Prinzessin und ihr ganzer Hofstaat so aufgelöst waren, dass keiner die Verwechslung bemerkte.« Der Mann schüttelte leicht den Kopf. »Der Einzige, der dabei ernsthaft bestraft worden wäre, wäre das andere Kind gewesen. So konnte es ein Leben als Prinz führen. Andernfalls wäre es vielleicht im Waisenhaus gelandet.«
    Der Mann schaute über die Brüstung hinunter.
    »Das ist wirklich ein schönes Märchen«, sagte die Frau, als der Mann nicht mehr weiterredete. »Ich bin sicher, ich werde es Victor erzählen.« Sie lächelte. »Aber eine Frage habe ich noch. Warum hat der Wolf nicht noch mehr dafür gekämpft, die Prinzessin hinter Schloss und Riegel zu bringen? Warum hat der Wolf nicht die Kiste im Nachbarschloss untersucht, auf der die Prinzessin doch seiner Meinung nach den Brief geschrieben hatte? Warum hat er nicht alle Verliese nach Spuren des Kindes durchstöbern lassen?«
    Der Mann schaute die Frau lange an. »Wölfe fressen Geißlein. Wölfe bringen Schäfchen zur Strecke. Wölfe befreien den Wald von kranken und verwesten Tieren. Aber Wölfe reißen keine Prinzessinnen.« Er machte eine Verbeugung, die so winzig war, dass die Frau fast glaubte, sie hätte sie sich nur eingebildet.
    »Jetzt habe ich Sie aber furchtbar lange aufgehalten«, sagte der Mann. »Entschuldigen Sie, Ihre Familie vermisst Sie sicher schon.« Er lächelte die Frau, die an der Brüstung stand, an. »Alles Gute, Frau Simon. Ich wünsche Ihnen viel Glück. Sehen wir Sie bald wieder im Fernsehen?«
    »Ich denke ja.«
    »Auf Wiedersehen. Und frohes neues Jahr!« Der Mann hob zum Abschied die Hand.
    »Frohes neues Jahr!«, sagte die Frau leise, aber da war der Mann schon in der Wohnung verschwunden. Jetzt erst entdeckte sie in ihrer rechten Hand die Zigarettenschachtel. Es war eine Marke, die sie niemals rauchte. Im Westen begann es zu dunkeln. Bald musste der Lieferservice klingeln, der die Gans brachte.
    Ihr Körper war kalt, aber die Frau spürte keinen Schmerz, als sie die Treppe zum Wohnbereich hinunterging. Der Baum spiegelte sich in den großen Fensterscheiben, jemand hatte die Elektrokerzen eingeschaltet, das Lametta funkelte. Die junge Frau mit den blonden Korkenzieherlocken, der kleine Junge mit der Latzhose, der älter werdende Mann mit den Filzpantoffeln und das Kind versuchten, zu viert auf dem
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