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Die Braut von Rosecliff

Die Braut von Rosecliff

Titel: Die Braut von Rosecliff
Autoren: Rexanne Becnel
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oder?«
    Der missgebildete kleine Mann schaute zu ihr auf, und sie konnte ihm ansehen, dass seine Gedanken nicht mehr bei ihrer heutigen Unte r richtsstunde wa ren. Besorgt runzelte Josselyn die Stirn. In den langen Wochen dieses bitter kalten Winters war er schon oft geistesabwesend gew e sen. Ging es ihm nicht gut? Oder spürte der alterslose Barde, dass irgendwelche bestürze n den Veränderungen in der Luft lagen?
    »Das Ende des Winters ist wirklich sehr nahe«, murmelte er auf Walisisch, ihrer beider Mutte r spra che. »Und damit rückt auch das Ende dieses Unter richts heran«, fügte Newlin hinzu.
    Sie war daran gewöhnt, dass er sie nur mit dem lin ken Auge fixieren konnte, und zuckte mit den Schul tern. »Vielleicht für eine Weile… Im Frühling wird es sehr viel zu tun geben, aber im Sommer werde ich wieder mehr Zeit haben.«
    »Im Sommer wirst du vielleicht schon verheir a tet sein und dich um deinen Mann kümmern müssen.«
    »Wer soll dieser Ehemann sein?«, fragte sie auf Französisch, der Sprache der Normannen. »J e mand, den ich kenne?«, fuhr sie im raueren Angelsächsisch fort.
    Newlin lächelte ihr zu, wobei sich nur die linke Seite seines Mundes nach oben bewegte. Die rechte Gesichtshälfte war gelähmt, ebenso wie die ganze rechte Seite seines Körpers: der Arm war verküm mert, das Bein verkrümmt. Er hu m pelte mühsam umher und konnte alle alltäglichen Arbeiten nur mit der linken Hand verrichten.
    Diese Gebrechen hatte Gott jedoch wettg e macht, indem Er den Krüppel mit einem phänomenalen Geist ausstattete. Newlin war u n bestritten der weises te und intelligenteste Mann in ganz Rhofoniog. Von der englischen Grenze im Osten bis zum stürmischen Meer westlich der Wälder in der Umgebung des Dor fes Carreg Du konnte niemand sich mit ihm messen. Er beherrschte vier Sprachen – das einheimische Cy m raeg, das er Josselyn beigebracht hatte, und das Latein, das normalerweise hauptsächlich den Priestern vorbehalten war.
    Er konnte die Sterne deuten, das Wetter vorhersagen und s o gar die Tiere verstehen. Er vergaß nichts, was er einmal gehört hatte, und in den langen, dunk len Wintermonaten unterhielt er die Leute von Carreg Du mit seinen Geschichten über alte Zeiten und sei nen Prophezeiungen künftiger Ereigni s se.
    Niemand kannte sein Alter, niemand wusste, wo her er einst gekommen war. Er lebte seit jeher im dornen unweit der Wiese, neben dem mit Kletterrosen bewachsenen Hügel, und niemand machte ihm dieses Recht streitig, obwohl kein normaler Ster b licher es jemals gewagt hätte, in einer Grabstätte zu wohnen.
    Lehrer und Schülerin saßen jetzt auf einem Fel s vor sprung, in halber Höhe jenes Hügels. Josselyn starrte auf die kahle Wiese hinab: die Erde war schon halb aufgetaut und hatte sich mit Wasser vollgesogen, doch sonst deutete noch nichts auf den baldigen Früh ling hin. Newlin blickte hingegen nachdenklich zu den Klippen empor, stand plöt z lich auf und begann den steilen Hügel zu erkli m men.
    »Warte! Wo willst du denn hin?«
    »Ans Meer.«
    »Ans Meer? Und was ist mit meinem Unterricht?«, rief Joss e lyn, als er sich humpelnd entfernte.
    »Das Ende des Winters ist nahe«, rief er auf Eng lisch zurück. »Und mit dem Frühling wird eine Zukunft anbrechen, der wir nicht entrinnen können«, fügte er in ihrer gemeinsamen Mutte r sprache hinzu.
    Josselyn wusste, dass es sinnlos wäre, ihn nach der Bedeutung seiner rätselhaften Worte zu fragen. New lin enthüllte immer nur, was und wann er wollte, doch seine Prognosen waren beängst i gend exakt. Sie hatte keine Ahnung, was er mit der Zukunft meinte, der sie nicht entrinnen konnten, aber sie kletterte hinter ihm her, in der Hoffnung, eine Erklärung zu erhalten.
    Gemeinsam erreichten sie den Gipfel, lief unter ihnen brau s te das dunkle, stürmische Meer, und ein rauer Wind fegte Kälte und Feuchtigkeit heran. Josse lyn hielt ihm trotzig stand, ign o rierte die eisigen Fin ger, die an ihrem Wollrock und Mantel zerrten und ihre pechschwarzen Haare zerzausten. Die Aussicht war atemberaubend, von einer wilden Schönheit, die ein Abbild des unbändigen walis i schen Freiheits drangs zu sein schien.
    Der große Felshügel hieß Carreg Du –Schwarzer Stein –, und viele Menschen hatten ihn zu ihrem Fa miliennamen gemacht. Josselyns Vater hatte sich Howell ap Carreg Du genannt, und sie selbst war Jos selyn ap Carreg Du. Ihre Vorfahren hatten schon hier gelebt, als es noch keine schriftlichen Dokumente gab, als die ersten
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