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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Autoren: Tim Willocks
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weil er ein Buch gelesen hat. Kannst du es mir beibringen? Ich meine, wie man Noten liest?«
    »Ich kann es versuchen, wenn du Noten hast.«
    »Was meinst du?«
    »Was meinst denn du?«
    Hugon beschloss, dass er über diese Angelegenheit am besten später einmal mit ihr reden sollte.
    Sie gingen weiter, und das Mädchen stellte schon wieder verwunderte Fragen.
    »Hugon? Warum haben sie dich nicht in der Kathedrale zurückgelassen?«
    »Sie brauchten mich, weil ich ihre Sachen tragen musste.«
    »Aber warum bist du nicht mit ihnen mitgegangen?«
    Hugon runzelte die Stirn. Der Gedanke war ihm nie gekommen. Er war sich darüber im Klaren gewesen, dass die Möglichkeit bestand. Sie hatten es von ihm erwartet, es für selbstverständlich gehalten, wenn sich auch niemand die Mühe gemacht hatte, ihn zu fragen, ob er das wollte. Doch das hatte nur seine Sinne für den richtigen Zeitpunkt geschärft, wann er entkommen konnte, und zwar mit der Gambe. Er hatte keinen Zweifel gehegt, dass das ältere Mädchen, Pascale, ihn niedergeschossen hätte, nur um des Vergnügens willen, ihn fallen zu sehen.
    »Ich habe meinen Teil getan, nicht?«, sagte er. »Und mehr. Und du auch.«
    »Ich weiß nicht.« Sie dachte darüber nach. »Ich habe nichts gemacht.«
    »Du hast Carla Gesellschaft geleistet, oder nicht? Und das hat sie gebraucht, das kannst du mir glauben. Ich bin euch von Cockaigne über die Dächer gefolgt. Ich habe dich gesehen. Du hast auf dem ganzen Weg ihre Hand gehalten.«
    »Das stimmt schon. Ja, ich habe ihre Hand gehalten.«
    »Und wenn ich mich recht erinnere, dann hast du sie auch gehalten, als ihr in Cockaigne angekommen seid. So wie du gerade meine hältst. Das kannst du gut.«
    »Wirklich?«
    »Ich habe einen Bärenhunger. Lass uns was zu essen suchen.«
    Sie blieben bei der Kette stehen, die am Ende der Brücke auf der Erde lag, und schauten die Straßen hinauf und hinunter, die am Fluss entlang liefen. Sie waren alle dunkel und menschenleer. In der Ferne hörte er Schüsse. Eine Salve, wie sie das wohl nannten. Er sah die Laternen vor dem Châtelet, aber keinerlei Bewegung. Mistkerle. Er war froh, dass niemand mehr da war, der erzählen konnte, wie Rody ihn erwischt hatte, vor allem Rody nicht. Der hatte großen Spaß dabei gehabt, als ihn der Infant ausgeschimpft hatte.
    Hugon zerrte Antoinette mit sich, als er über die Straße huschte und geduckt in die Savonnerie und die vielen namenlosen Wege und Gassen östlich von Saint-Denis eintauchte.
    Jetzt fühlte er sich sicherer. Sie konnten über diese Gassen den ganzen Weg zu den Höfen zurücklegen.
    »Uns ist es gut ergangen, dir und mir. Alles wird gut für uns.«
    »Das glaube ich auch.« Ihre Stimme klang nicht ganz so sicher.
    »Solange wir den Leuten nicht alles glauben.«
    Er spürte, dass er sich widersprochen hatte, aber sie hatte es anscheinend nicht verstanden.
    »Jetzt wird es sowieso anders werden. Jetzt kommandiert keiner mehr: Bring den Wein und hol das Wasser. Stattdessen fragen sie: Hugon, du warst doch dabei, beim Infant und bei Tannser. Was ist geschehen? Was haben sie gemacht? Wie haben sie es gemacht?«
    »Was ist denn passiert?«, fragte Antoinette.
    Hugon fand nicht, dass diese Frage eine Antwort verdiente.
    Aber die andere Frage, die sie ihm auf der Brücke gestellt hatte, plagte ihn immer noch.
    »Jedenfalls. Warum sollte ich aus Paris weggehen wollen?«
    Dann bebte die Nacht unter dem Dröhnen von tausend Stück Vieh, die zu den Schlachthöfen getrieben wurden. Hugon konnte Antoinettes Gesicht nicht mehr sehen. Er hielt ihre Hand fest.
    »Wie der Infant sagt, es ist die großartigste Stadt der Welt.«



EPILOG

V ON W ILDNIS U MGEBEN
    Das Massaker von Paris weitete sich am zweiten Tag, am Montag, dem 25. August 1572, noch aus und wurde noch brutaler.
    Am Dienstag erreichte der Kreuzzug gegen die Hugenotten den Höhepunkt seines Wahns.
    Obwohl die Zartbesaiteten und Nervenschwachen inzwischen genug hatten und die Reihen der Mörder daher ein wenig gelichtet waren, waren jetzt diejenigen, die im Morgengrauen aufwachten und zu den Waffen Christi griffen, nur noch die ehrgeizigsten und am meisten begeisterten Kämpfer. Sie brachten es fertig, die Erbarmungslosigkeit und Verderbtheit des Vortags noch zu übertreffen. Milizhauptmänner, die auf Prestige aus waren und sich ihren Ruhm eroberten, führten ihre Banden mit Fahnen und Trommeln an, und Priester segneten das Blut auf ihren Schwertern im Namen der Schutzheiligen. Frauen wurden zu
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