Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
Münzen zu zählen, um ihm mehr als einen säuerlichen Blick zuzuwerfen. Hier wurden weitere Auswanderer geschröpft, alle schwarz gekleidet. Tannhäuser betrat die Stadt und kam im Schatten der Mauern zum Stehen. Die feuchte Luft war erdrückend. Er wischte sich die Stirn ab. Der Weg von der Garonne nach Norden hatte acht Tage gedauert, zwölf frische Pferde verbraucht und auch ihn beinahe zu Tode erschöpft. Tannhäuser hatte das Gefühl, als könnte er keine einzige weitere Meile mehr überstehen. Aber er war zum ersten Mal in der großen Hauptstadt und brachte schließlich doch genügend Energie auf, um ihre Atmosphäre ein wenig in sich aufzunehmen.
    Vor ihm verlief die Grande Rue Saint-Jacques zur Seine hinunter. An kaum einer Stelle war sie mehr als fünf Schritte breit. Auf jedem Quadratfuß drängten sich Menschen und ihre Tiere. Das Rufen, das Brüllen, das Meckern, das Bellen und das Summen der Fliegen, gegen all das hätte selbst ein Schlachtfeld ruhig gewirkt. Und sogar jene Verdammten, deren Aufgabe es war, in alle Ewigkeit den Pisspott des Satans auszulecken, hätten keinen widerlicheren Geruch kennen können. All das hätte Tannhäuser erwarten können, aber unter dem alltäglichen Gewimmel auf der Straße spürte er zudem noch eine bösartigere Spannung. Es war, als hätten zu viele Menschenzu lange zu viel Angst und Wut herunterschlucken müssen. Die Pariser waren ein widerspenstiges Volk und berüchtigt für ihren Hang zum Ungehorsam und zu öffentlichem Aufruhr aller Art, aber selbst sie konnten eine so fieberhafte Stimmung gewiss nicht lange aushalten. Unter anderen Umständen hätte ihm das alles vielleicht nicht viel Sorgen bereitet. Aber er war ja nicht quer durch Frankreich gereist, um Streit zu suchen.
    Er war hier, um Carla, seine Frau, zu finden und nach Hause zu holen.
    Carla war tollkühn nach Paris abgereist, was ihm schmerzliche Sorgen und Verzweiflung bereitet hatte. Diese Gefühle wurden noch dadurch verstärkt, dass sie hochschwanger war. Sie erwartete ihr zweites gemeinsames Kind, das, so Gott wollte, ihr erstes Kind sein würde, das überleben würde. Und doch hatte ihn Carlas Verhalten nicht sonderlich überrascht. Sobald sie einmal einen Entschluss gefasst hatte, legte sie eherne Willensstärke an den Tag, und praktische Hindernisse, gleich welcher Art, riefen bei ihr nur Verachtung hervor. Es war eine der Eigenschaften, die er an ihr so liebte. An dieser Wand hatte er sich schon mehr als einmal den Schädel eingerannt. Wenn man dazu noch bedachte, dass eine Schwangerschaft ohnehin ein Zustand zeitweiligen Wahnsinns war, dann hätte ihn  Carlas Reise nach Paris über Straßen, die seit dem Fall Roms nicht mehr ausgebessert worden waren, kaum verwundern dürfen.
    Nur wenige Frauen konnten außerdem der Einladung zu einer Hochzeit widerstehen, noch dazu zu einer Hochzeit zwischen zwei Königshäusern, die weit und breit als die Verbindung des Jahrhunderts gefeiert wurde.
    Durch den Unrat auf der Straße kamen Tannhäuser zwei Kinderprostituierte entgegengewankt, die Gesichter mit Bleiweiß zugekleistert, die Wangen und Lippen grotesk mit Scharlachrot beschmiert. Die Mädchen waren Zwillinge, ähnelten einander wie ein Ei dem anderen, was ohne Zweifel ihren Preis in die Höhe trieb. Das Licht, das einmal in ihren Augen geleuchtet haben musste, war längst erloschen und würde nie wieder scheinen. Als wären sie auf dieselbe Schule der Verderbtheit gegangen, setzten die beiden das gleiche lüsterne Grinsen auf, um ihn anzulocken.
    Der Magen drehte sich ihm um, als er sich in der Menge nach ihrem Kuppler umschaute. Ein gedrungener halbwüchsiger Grobian starrte ihm ins Gesicht und begriff rasch, dass ihm Prügel oder Schlimmeres drohten. Er stieß einen schrillen Pfiff aus. Die elenden Kinder machten auf dem Absatz kehrt und huschten zu ihm zurück.
    Tannhäuser drängte sein Pferd durch die Menge.
    Sein Wissen über die Stadt war gering und stammte aus den Briefen seines Stiefsohns Orlandu, der hier am Collège d’Harcourt Mathematik und Astronomie studierte. Die südliche Hälfte der Stadt am linken Ufer wurde Université genannt. Die Insel in der Seine hieß Cité. Das rechte Ufer jenseits des Flusses war als Ville bekannt. Darüber hinaus wusste Tannhäuser nur, dass Paris die größte Stadt der Welt war, ein riesiges Gewirr von auf keiner Karte verzeichneten Straßen und namenlosen Gassen, von Palästen, Tavernen, Kirchen und Bordellen, von Märkten, Schlachthöfen und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher