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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Autoren: Tim Willocks
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Werkstätten, von unendlich vielen jämmerlichen Hütten, die armseliger waren, als man es sich vorstellen konnte.
    In Paris waren mehr Bettler, Huren und Diebe zu Hause, als es sonst im ganzen Rest von Frankreich gab. Die gedungenen Meuchelmörder waren so zahlreich, dass sie ihre eigene stolze Zunft hatten, genau wie die Goldschmiede und Handschuhmacher. Verbrecherbanden gediehen prächtig, waren im Bunde mit verschiedenen Commissaires und Sergents . Und am anderen Ende der Hierarchie benutzten die Krone und die großen Aristokraten, wenn sie gerade nicht gegeneinander intrigierten oder sinnlose Kriege anzettelten, die ihnen nach ihren Ausschweifungen noch übrig gebliebene Energie dazu, ihre Untertanen durch immer erfinderischere Steuern auszurauben.
    Nach der Straße mit ihrer offenen Kloake erschien Tannhäuser der Geruch eines Mietstalls wie eine Erlösung. Er hörte, dass drinnen jemand verprügelt wurde. Das lustvolle Grunzen, das die Peitschenschläge begleitete, kam aus dem Hals des Prügelnden. Tannhäuser stieg im Hof vom Pferd und ging den Geräuschen nach, bis er zu einem Abteil gelangte, wo ein muskulöser Kerl, nackt bis zur Taille, ins Schwitzen kam, während er mit dem Metallende eines Zaumzeugs auf einen Jungen einprügelte. Tannhäuser erblickte blutigeLumpen, einen unansehnlichen Körper, der sich stumm und zusammengekrümmt auf einer Masse feuchten Strohs wand.
    Tannhäuser packte das Zaumzeug bei der Trense, als der Kerl wieder weit ausholte. Dann schlang er dem Burschen den Lederriemen um den Hals und zog fest zu. Während der Mann beinahe an seiner eigenen Faust erstickte, trat ihm Tannhäuser gegen die Achillesferse, drehte ihm den freien Arm auf den Rücken und rammte ihm ein Knie in die Wirbelsäule. Dann brachte er ihn mit seinem ganzen Gewicht zu Fall, bis der Kerl mit dem Gesicht auf die Steinplatten prallte. Eine in den Boden gegrabene Urinrinne verlief an den Abteilen entlang und wurde gerade von der erschrockenen Stute mit einem Schwall nachgefüllt. Tannhäuser drückte Nase und Mund des Stallknechts in den stinkenden Strom und ließ ihn einatmen. Der Mann wand sich, bis ihn die Kraft verließ. Tannhäuser ließ das Zaumzeug los und stand auf.
    Inzwischen war der verprügelte Junge wieder auf den Beinen. Er war ein stämmiger Bursche, aber ansonsten war die Natur ihm wenig hold gewesen. Eine Hasenscharte entblößte sein Zahnfleisch bis zum linken Nasenloch. Sein Alter war schwer einzuschätzen, er mochte vielleicht zehn Jahre alt sein. Man musste ihm zugutehalten, dass er keine Träne vergossen hatte. Sein Unterkiefer war verformt, und Tannhäuser fragte sich, ob der Junge vielleicht schwachsinnig war.
    »Meine Stute muss abgerieben werden.«
    Der Junge nickte und verschwand.
    Tannhäuser beförderte den Stallknecht mit einem Tritt aus dem Weg, lud sein Gepäck ab und nahm den Sattel herunter. Als der Junge mit einem Striegel kam, stolperte der Stallknecht hinkend vorbei und hielt sich die Rippen. Er taumelte auf die Straße zu. Der Junge schaute ihm nach. Tannhäuser überlegte, ob er ihm überhaupt einen Gefallen getan hatte. Zukünftige Prügel würden wahrscheinlich noch schrecklicher ausfallen. Er dachte an das Gewicht seiner Habseligkeiten und an die Aussicht, sie auf überfüllten Straßen durch die stickige Hitze schleppen zu müssen.
    »Wie gut kennst du die Stadt, Junge?«
    Der Bursche stieß ein seltsames, schepperndes Lachen aus. Er zog die Schultern hoch und machte merkwürdige Gesten mit seinenSchaufelhänden. Alles, was Tannhäuser daraus entnahm, war Begeisterung.
    »Wie heißt du?«
    Er versuchte, die gepresste, nasale Antwort zu deuten.
    »Grégoire?«
    Wieder das Lachen. Begeistertes Nicken. Auch Tannhäuser lachte.
    »Nun, Grégoire, ich mache dich zu meinem Knappen. Und hoffentlich auch zu meinem Stadtführer.«
    Grégoire fiel mit gefalteten Händen auf die Knie und sang etwas, das ein Segensspruch hätte sein können. Der Junge würde einen einzigartigen Vergil 1 abgeben, nicht zuletzt, weil Tannhäuser ihn kaum verstehen konnte. Er hob ihn auf die Beine und schaute ihm in die Augen. Sie strahlten hell vor Intelligenz.
    »Kümmere dich um das Pferd, Grégoire, und dann suchen wir dir was Anständiges zum Anziehen.«
    Grégoire, frisch mit einem der feinen weißen Leinenhemden des Stallbesitzers namens Engel bekleidet, hielt sich tapfer unter seiner Bürde. Die bestand aus den beiden großen Satteltaschen, einem aufgerollten Tuchschlafsack, einem
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