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Die Bleiche Hand Des Schicksals

Die Bleiche Hand Des Schicksals

Titel: Die Bleiche Hand Des Schicksals
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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schwarz in einem weißen, verhutzelten Gesicht. Es war, als würde eine Tote ihn anstarren.
    Er war ein geübter Schwimmer, fühlte sich im Wasser sicher, aber bei diesem Blick geriet er in Panik. Er öffnete den Mund, stieß Luft aus und kämpfte sich, verzweifelt um sich tretend und schlagend, zur Oberfläche. Er tauchte keuchend und prustend auf, würgte und rang nach Luft. Shaun ruderte auf ihn zu, noch immer gut zwanzig Meter entfernt, und kniete sich auf die Ruderbank, als er Russ entdeckte. »Hast du sie gefunden?«, schrie er. »Bist du okay?« Nicht in der Lage zu antworten, hob Russ den Arm. Shauns Hand am Ruder erstarrte. »Jesus! Sie ist doch nicht tot?«
    Noch nicht, aber sie würde es bald sein, wenn er sich nicht zusammenriss und sie aus dem Wasser zerrte. Ohne einen weiteren Gedanken zuzulassen holte Russ tief Luft und tauchte wieder hinunter in die Tiefe. Als sie dieses Mal vor ihm auftauchte, ignorierte er ihr Gesicht und konzentrierte sich darauf, seinen Arm im Rettungsgriff unter ihr Kinn zu zwängen. Sie wehrte sich, kratzte an seinem Arm und riss an seinen Haaren, was im Vergleich zu ihrer unheimlichen, gespenstischen Vorwärtsbewegung beinah eine Erleichterung war. Es war normal, etwas, womit er umgehen konnte. Er verstärkte seinen Griff und schoss nach oben, sein freier Arm schmerzte von der Anstrengung, ihr Kleid verhedderte sich in seinen Beinen. Noch ehe er die Oberfläche erreichte, spürte er, wie sie erschlaffte. Wie viele Minuten waren vergangen, seit sie ins Wasser gegangen war? Die Zeit dehnte sich. Er hatte das Gefühl, schon ewig im See zu sein. Als er gemeinsam mit ihr die Oberfläche durchbrach, trieb sie schlaff dahin, nur von seinem Arm unter ihrem Kinn gehalten.
    O nein, das tust du nicht. Er drehte sich auf den Rücken und schwamm mit kräftigen Zügen zum Ufer, hielt sie dicht an seine Brust gepresst, während er sich auf den Rhythmus seiner Arme und Beine und seiner Atmung konzentrierte, und er merkte erst, dass er angekommen war, als sein Arm hinter dem Kopf auf groben Sand statt kaltes Wasser traf. Er kam auf die Knie und halb zog er die alte Dame, halb trug er sie auf das Gras. Er hielt ihr die Nase zu, bog ihren Kopf zurück und begann mit der Mund-zu-Mund-Beatmung. Blasen. Einatmen. Blasen. Einatmen.
    Er hörte das Scharren des Bootskiels, und dann war Shaun da, fiel auf der anderen Seite neben dem Kopf der alten Dame auf die Knie. »Lass mich mal ran, Mann«, sagte er. »Du musst erst wieder selbst Luft kriegen.« Russ nickte. Er beobachtete, wie Shaun den Rhythmus aufnahm, dann ließ er sich ins Gras fallen.
    Er hörte ein gurgelndes Husten und schob sich aus dem Weg, als Shaun die alte Dame auf die Seite rollte. Sie keuchte, würgte und erbrach dann eine erstaunliche Menge Wasser. Sie begann leise zu weinen. Über ihren Schultern begegnete er Shauns Blick. Shaun spreizte die Hände und zuckte die Achseln. Und jetzt?
    Russ rappelte sich hoch. Zusammengekrümmt und weinend sah die Frau nicht mehr angsteinflößend aus, nur alt und verloren. »Ich glaube, wir sollten sie ins Krankenhaus bringen«, meinte Russ. »Lauf den Pfad hoch und sieh nach, ob sie ihren Wagen an der Straße abgestellt hat.«
    Shaun machte einen Bogen um den winzigen Friedhof und sprang mit großen Schritten den überwucherten Pfad hinauf, bis er aus dem Blickfeld verschwand. Russ kehrte zum Ruderboot zurück und zog es so weit er konnte auf das Gras. Er streifte seine Jeans über – die nach Bier stank – und zog seine Turnschuhe an und war gerade fertig, als Shaun den Pfad wieder herunterrannte.
    »’s da oben«, keuchte er und zeigte zur Straße. »Schlüssel steckt und alles.«
    »Gut.« Russ kniete sich neben die alte Frau und zog sie vorsichtig in eine sitzende Haltung. »Ma’am? Können Sie gehen? Wie heißen Sie?«
    Die alte Dame lehnte sich an seine Schulter. Sie weinte nicht mehr richtig, sondern gab tiefe zittrige Geräusche von sich wie ein kleines Kind. Sie schien ihn nicht zu hören. Er fragte sich, ob sie senil war, und falls ja, wie es dann kam, dass sie allein herumfuhr. Er drehte sich zu Shaun um. »Ich glaube, wir müssen sie tragen.«
    »Und was ist mit unserem Kram?« Shaun zeigte auf das Boot. »Es geht nicht nur ums Angelzeug, Mann. Ich hab noch …«, er senkte die Stimme, als könnte sich ein Drogenfahnder hinter einem der Grabsteine versteckt halten, »fast eine Unze Gras da drin.« Die Frau seufzte rasselnd und verfiel in ein regloses Schweigen, bei dem Russ
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