Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibel Verstehen

Die Bibel Verstehen

Titel: Die Bibel Verstehen
Autoren: Anselm Gruen
Vom Netzwerk:
vom heiligen Benedikt , dass er in einem einzigen Sonnenstrahl die ganze Welt erblickt habe. Damit beschreibt er das Wesen der contemplatio . In einem einzigen Blick schaue ich alles auf einmal, nicht nacheinander, sondern ineinander. Ich erkenne nicht etwas Begrenztes, über das ich sprechen könnte. Vielmehr blicke ich durch. Alles ist mir auf einmal klar. Ich weiß nicht, wie ich mein Leben erklären kann. Aber in der Tiefe meines Herzens weiß ich: Es hat sich alles geklärt. Alles ist gut so, wie es ist. Kontemplation ist Zustimmung zumSein, Zustimmung zu meinem Leben, Einverstandensein mit allem, was ist.
    In der Kontemplation denken wir nicht über Gott nach. Denn solange wir noch über Gott nachdenken, sind wir von Gott getrennt. Die Kontemplation will uns in die Einheit mit Gott führen. Isaak von Ninive meint, das Wort der Schrift würde uns die Tür aufschließen zum wortlosen Geheimnis Gottes. Gott, der sich im Wort ausdrückt, ist doch jenseits aller Worte. Und dennoch brauchen wir die Worte, um in diesen wortlosen Raum der Stille zu gelangen und dort in Gott zu wohnen und mit Gott eins zu werden.
    In der Stille lasse ich meine Gedanken und Bilder los. Ich bin einfach da, eins mit mir, eins mit Gott. Das ist immer nur ein Augenblick. Ich kann ihn nicht hervorrufen, sondern erlebe ihn als Geschenk. In diesem Raum des wortlosen Geheimnisses Gottes darf ich daheim sein. Heimat kommt von Geheimnis. Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt. In Gott kommt meine Seele zur Ruhe. Da wird Wirklichkeit, was der Psalmist sagt: «Schweigen lehrte ich meine Seele, und ich schaffte ihr Frieden. Wie ein Kind auf dem Schoß der Mutter, wie ein Kind, so ruht meine Seele in mir» (Ps 131,2). Das Wohnen im Geheimnis Gottes ist wie das Ausruhen eines Kindes an der Wange der Mutter. Es ist Geborgensein beim mütterlichen und väterlichen Gott.
    Die Mönche haben die Beziehung zwischen den vier Schritten der lectio divina so dargestellt: Die lectio bricht das Alabastergefäß der göttlichen Wonne auseinander. Die meditatio riecht daran und lässt den Wohlgeruch immer tiefer in sich eindringen. Die oratio bittet Gott, die Sehnsucht, die in der meditatio geweckt wird, zu erfüllen. Und die contemplatio genießt die göttliche Wonne, den Wohlgeruch göttlicher Liebe. Alle vier Schritte gehören zusammen. Ohne meditatio bleibt die lectio trocken. Ohne lectio verliert die meditatio ihr Fundament und schwebt dann nur im luftleeren Raum. Und die contemplatio vollendet die meditatio .

Mit der Bibel experimentieren
     
    Was heißt das für uns heute? Wir müssen nicht unbedingt die vier Schritte des Meditationsweges der frühen Mönche gehen. Doch wir können davon lernen, dass wir die Worte in unser Herz dringen lassen, so dass sie uns prägen. Ich erlebe viele fromme Christen, die beim Bibellesen immer sofort die moralisierende Ebene betreten. Sie stellen sich unter Druck und folgern aus der Schriftlesung: «Eigentlich müsste ich ganz anders sein. Eigentlich dürfte der Christ nur lieben und auf sein Ego verzichten. Er dürfte nur auf Gott hören und ihm folgen.» Doch solche Sätze hinterlassen im Leser nur ein schlechtes Gewissen. Er oder sie spürt, dieses «eigentlich» doch nie erfüllen zu werden. Die lectio divina weist uns einen anderen Weg. Indem ich das Wort Gottes in mich eindringen lasse, verwandelt es mich schon. Die Verwandlung geht nicht in erster Linie über den Willen und über die guten Vorsätze, die dann meistens doch nicht eingehalten werden. Vielmehr bewirkt das Wort, dass ich etwas in mein Herz fallen lasse, etwas in mir. Es bringt mich in Berührung mit dem, was das Wort bezeichnet: mit der Freude, mit der Liebe, mit dem Leben, das Gott mir schenkt, mit Jesus Christus, der schon in mir wohnt, von dem ich aber oft genug abgeschnitten bin.
    Jeder soll seine eigene Weise der Meditation üben. Für den einen stimmt es, dass er sich die Worte im Herzen wiederholt, so dass sie immer tiefer in seine Seele fallen können. Er denkt nicht über die Worte nach, sondern versucht, die Wirklichkeit der Worte zu schmecken und zu kosten, so dass sie ihn innerlich durchdringen und seinem Leben einen neuen Geschmack verleihen.
    Der andere möchte lieber über die Worte nachdenken. Wir sollen auch bei der Meditation unsern Verstand nicht ausschalten. Aber es besteht die Gefahr, dass wir beim Überlegen nur im Kopf bleiben. Für mich ist die wichtigste Überlegung bei der Meditation: «Wenn das stimmt, wie erlebe ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher