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Die Beute - 2

Die Beute - 2

Titel: Die Beute - 2
Autoren: Émile Zola
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daß der Bois de Boulogne, immer dichter in ein Leichentuch von Schatten gehüllt, seine mondäne Anmut verlor und, grenzenlos geworden, ganz vom mächtigen Zauber der Wälder erfüllt war. Das Rollen der Equipagen, deren lebhafte Farben in der Dunkelheit erloschen, glich fernen, von oben kommenden Stimmen rauschender Blätter und strömender Wasser. Alles schwand, alles erstarb. In dem allgemeinen Verlöschen hob sich das lateinische Segel10 des großen Vergnügungsschiffes mitten im See scharf und kräftig von der Glut des Abendhimmels ab. Und nun sah man nichts mehr als dieses Segel, dieses ins Unendliche vergrößerte Dreieck aus gelber Leinwand.
    Angesichts dieser Landschaft, die Renée nicht mehr wiedererkannte, dieser so kunstvoll verfeinerten Natur, aus der die große, erschauernde Nacht einen heiligen Hain schuf, eine jener idealen Waldlichtungen, in deren Tiefen die alten Götter einst ihre gewaltigen Leidenschaften, ihren Ehebruch und ihre göttliche Blutschande verbargen, verspürte sie in ihrer Übersättigung eine eigenartige Anwandlung unnennbarer Wünsche. Und je weiter sich die Kalesche entfernte, um so mehr schien es der jungen Frau, als nähme die Dämmerung hinter ihr auf zitternden Flügeln dieses Traumland mit sich, diese heimliche und übermenschliche Stätte der Lust, wo ihr krankes Herz, ihr von Überdruß erfüllter Leib endlich gestillt worden wären.
    Als der See und die Wäldchen, vom Schatten verschlungen, nur noch als schwarzer Strich am Himmelsrand sichtbar waren, wandte sich die junge Frau plötzlich um und nahm mit einer Stimme, aus der Tränen des Unwillens klangen, den unterbrochenen Satz wieder auf: »Was? … etwas anderes! Bei Gott! Ich will etwas anderes! Weiß ich denn, was? Wenn ich es wüßte … Aber, siehst du, ich habe die Bälle, die Soupers, all diese Festlichkeiten satt. Immer dasselbe! Es ist zum Davonlaufen … Die Männer sind zum Sterben langweilig, o ja, zum Sterben langweilig …«
    Maxime fing an zu lachen. Heiße Begierden verrieten sich im aristokratischen Mienenspiel der großen Weltdame. Sie blinzelte nicht mehr; ihre Stirnfalte grub sich tief ins Fleisch; die schmollende Kinderlippe schob sich vor, voller Begehrlichkeit nach jenen Genüssen, die sie herbeisehnte, ohne sie nennen zu können. Zwar sah sie das Lachen ihres Begleiters, aber sie war zu aufgeregt, um sich zu beherrschen. Halb liegend überließ sie sich dem Schaukeln des Wagens und fuhr in kurzen, trockenen Sätzen fort: »Ja, gewiß, ihr seid zum Sterben langweilig … Damit meine ich nicht dich, Maxime, du bist noch zu jung … Aber wenn ich dir erzählen wollte, wie lästig Aristide mir anfänglich gewesen ist! Und gar die anderen, jene, die mich geliebt haben … Du weißt, wir sind zwei gute Kameraden, vor dir tue ich mir keinen Zwang an. Nun denn, es gibt Tage, an denen ich es so satt habe, das Leben einer reichen, vergötterten, überall beachteten Frau zu führen, daß ich gern eine Laure d’Aurigny wäre, eine jener Frauen, die wie Junggesellen leben.«
    Und als Maxime noch lauter lachte, blieb sie hartnäckig dabei: »Jawohl, eine Laure d’Aurigny. Das muß weniger reizlos sein, weniger eintönig.«
    Sie schwieg einige Augenblicke, als stelle sie sich das Leben vor, das sie führen würde, wenn sie Laure wäre. Dann sagte sie in entmutigtem Ton: »Schließlich werden auch diese Frauen ihre Sorgen haben. Es gibt nichts, was nur lustig ist, soviel ist sicher. Es ist zum Davonlaufen … Ich sagte dir schon, ich wünsche mir etwas anderes; du verstehst wohl, ich komme selbst nicht dahinter, aber etwas anderes, etwas, was nicht jedem passiert, was man nicht alle Tage erlebt, einen seltenen, unbekannten Genuß.«
    Ihre Stimme war schleppend geworden. Die letzten Worte hatte sie stockend gesprochen, wie aus einem tiefen Traum heraus.
    Die Kalesche fuhr jetzt die Allee hinauf, die zum Ausgang des Bois de Boulogne führt. Die Dunkelheit nahm zu. Das Buschwerk lief zu beiden Seiten hin wie graue Mauern; die gelbgestrichenen eisernen Stühle, auf denen sich an schönen Abenden die herausgeputzte Bürgerschaft zur Schau stellt, huschten ganz verlassen am Rand der Fußwege vorbei, mit der düsteren Melancholie von Gartenmöbeln, die vom Winter überrascht worden sind, und das Rollen, das dumpfe, taktmäßige Geräusch der heimkehrenden Wagen tönte wie eine traurige Klage durch die verödete Allee.
    Ohne Zweifel empfand Maxime, daß es durchaus nicht zum guten Ton gehöre, das Leben lustig zu
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