Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bestimmung

Die Bestimmung

Titel: Die Bestimmung
Autoren: Erik Kellen
Vom Netzwerk:
schimmerte auf kurzen, schnellen Wellen. Die Dämmerung färbte das Wasser zu dunkler Tinte. Und dann kamen sie: Die Toten. Dutzende. Hunderte. Zwischen ihnen schaukelten zerschundene Pferdeleiber, die langsam in Strudeln um sich selbst kreisten. Gespickt mit Pfeilen, die alle nur noch bis zu einem ölig schwarzen Gefieder heraus stakten. Schilde tauchten auf, gingen wieder unter. Mit verschlungenen Zeichen bemalt. Gesichter erhoben sich, versanken, drehten sich, mit geschlossenen Augen allesamt. Einem steckte eine Speerspitze von der Wange hinauf bis durch den Schädel, was ihn zum Trudeln brachte. Nilah wollte unbedingt mit ihnen gehen, den Fluss spüren, darin …
    Doch plötzlich erschien ein greller Haarschopf aus dem dunklen Brausen und schlug eine ganz andere Richtung ein als alles um ihn herum. Jemand schwamm mit und gleichzeitig gegen den Strom. Jemand versuchte, diesen Albtraum zu durchqueren. Und kam genau auf ihren Anleger zu.
    Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Fuß, Nilah erschrak, die Hand rutschte ab, trieb seitwärts vorbei, suchte erneut Halt und grub sich dann in die letzte Ritze, die zwischen den Planken klaffte.
    «Festhalten!» schrie eine verzweifelte Stimme.
    Nilah kannte die Sprache nicht, dennoch sauste sie mit den Knien runter wie auf Befehl, umklammerte die nassen Finger so fest sie nur konnte. Ein Unterarm wuchtete sich zusätzlich zur Hälfte auf das Holz, der Druck ließ nach. Worte rauschten an ihr vorbei, doch sie hörte die Töne nur entfernt. Der Fluss war so wunderschön, so nah, so fern ... ihr Herzschlag schlang sich um den Puls des Wassers. Fallen, schlafen ... ankommen.
    Ihr Kopf wurde unsanft auf den Boden gedonnert. Keuchender Atem fegte in ihr Ohr.
    «Schluss damit!» Auch diese Worte fremd und kehlig.
    Sie gehorchte, kehrte zurück. Die Frau vor ihr, eine von Nilahs blonden Strähnen in der geballten Faust, fauchte sie an. Nilah erwiderte den Blick, wobei er gegen das harte Grün der Augen prallte. Zäh und ungestüm. Das üppige Haar weiß wie Kalk. An den Schläfen sowie den Seiten abrasiert und dann wie ein Pferdeschweif über den Schädel geformt. Der scharf geschnittene Mund, schön und stolz wie die Sonne. Ein Kinngrübchen voller Energie. Muskeln, Sehnen, Schlüsselbeine. Für einen Augenblick sah sie etwas, dass Nilah neidisch werden ließ – eine wilde Kriegerin.
    Ein Zittern ging durch den blassen Leib, wobei die Frau fest die Augen schloss, dann würgte sie ein: «Wo - bin - ich?» heraus, als bekomme sie keine Luft. Und nun verstand Nilah sie endlich.
    Sie antwortete unwillkürlich: «Ham - burg Alster - dorf.»
    Die Unbekannte schüttelte heftig den Kopf. «WO?»
    Nilah überlegte wie rasend. Ein Streitwagen im Fleet, Schilde, Tote, Speere, Irrsinn. Ganze Jahrhunderte passierend.
    «Germanien!», rief sie intuitiv.
    Entsetzen und Unglauben erschienen in dem faszinierenden Gesicht. Dann kam die Wut, als überlege sie, wem sie für diesen Schlamassel die Knochen würde brechen müssen.
    Plötzlich wurde die Frau von etwas an der Schulter getroffen. Sie zuckte, fletschte die weißen Zähne schmerzhaft zusammen, dabei knurrte sie wie eine Furie. Nilah hob den Blick und starrte die Alte wieder an, die am anderen Ufer nun hektisch Steine sammelte. Sie fuchtelte zwischen ihrer Suche mit den Armen, so als wolle sie jemanden vertreiben. Der Grasmund raunte dabei kryptische Flüche. Die Strömung nahm weiter zu und riss die Kriegerin beinahe fort. Die Sehnen des Unterarms spannten sich.
    «Sie hasst es, wenn jemand nicht hierher gehört», stöhnte sie leise. Erst jetzt sah Nilah, dass die Frau, deren Hand sie immer noch wie einen Anker festhielt, einen Rinden-Unterarmschutz mit eingeritzten Spiralen trug. Zwei Finger waren mit dünnem Leder umwickelt. Schmale Streifen blauer Farbe waren über-und unterhalb der Knöchel gezeichnet worden.
    «Wer ist sie?» Nilah wollte über den schönen, ruhigen, sehnsuchtsvollen Kanal deuten, aber ihr Arm war schwer wie die Erde.
    «Die Klagende. Jemand aus Deinem Stamm verliert seinen Atem an den Wind.»
    Mein Stamm? rasten ihre Gedanken. Ich habe keinen Stamm, nur meinen Vater. Ihr Vater?
    «Wo ist mein ... Bruder?» Das letzte Wort loderte durch die grünen Augen.
    «Bruder? Ich–.» Nilah spürte ganz plötzlich eine seltsame Hitze in ihrer Haut. Ich erlebe das hier gar nicht wirklich, ich verfolge es nur, oder?
    «Dann musst Du Ihn finden, kleine Seele. Finde ihn! Er ist der einzige, der Dich beschützen wird.»
    Wovor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher