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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung
Autoren: Heinz G. Konsalik
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immer wieder, sie stammelte Worte, die Hansen und sie selbst nicht verstand, sie umklammerte ihn, als sollte er ihr wieder entrissen werden, und weinte und lachte und fragte und gab Antwort, alles in einem Atem. Dann zog sie ihn mit sich zum Haus, als entführe sie ihn.
    Still und unbemerkt stieg der Anwalt wieder in seinen Wagen. Er wendete und fuhr zurück. Es war später immer noch Zeit, über alles zu sprechen. Es kam auf einen Tag nicht mehr an.
    »Jens … jetzt bist du endlich wieder zu Hause«, sagte Karin. Sie standen im Wohnzimmer. Auf dem Tisch brannten Kerzen. Er war für zwei Personen gedeckt.
    »Zu Hause …« Dr. Hansen legte den Kopf auf Karins Schulter. »Ja … jetzt bin ich wieder zu Hause …«
    Zu Hause widmete sich Dr. Hansen zunächst einmal ausgiebig dem Müßiggang. Es war, als wolle er sich dadurch von allem lösen, was hinter ihm lag. Wenn er etwas las, so war es gewiß nichts Medizinisches. Und die Briefe, die täglich in großen Mengen eintrafen, weitergeleitet von Wottke, der jeden Freitag einen genauen Bericht schrieb, öffnete Karin und beantwortete sie auch allein. Meist waren es Anfragen von Krebskranken, die erst durch die Verhaftung von Hansen gehört hatten und nun um schriftliche Ratschläge baten. Auch Anträge von Zeitungen und Illustrierten kamen ins Haus, Angebote, die Lebensgeschichte exklusiv zu verkaufen, Bilder zur Verfügung zu stellen, Interviews zu geben, eine Besichtigung der geschlossenen Klinik zu erlauben … Karin lehnte alles ab.
    »Mein Mann möchte Ruhe …«, schrieb sie an die Zeitungen. »Mein Mann kann aus den bekannten Gründen zur Zeit keinerlei ärztliche Ratschläge geben oder Untersuchungen vornehmen …«, schrieb sie an die hilfesuchenden Kranken.
    Aber sie tat eins: Sie sammelte alle Anfragen der Krebskranken, heftete sie in Schnellheftern ab und brachte sie – vier Stück, prall gefüllt – nach einigen Wochen zu Oberstaatsanwalt Dr. Barthels. Hansen wußte nichts davon, er hätte es ihr auch verboten.
    Dr. Barthels blätterte die Briefe durch, die sie ihm auf den Schreibtisch legte.
    »Vierhundertdreiundsechzig …«, sagte sie.
    »Alles Krebskranke? Unheilbare?« – »Ja.«
    »Es ist furchtbar.« Dr. Barthels klappte die Schnellhefter zu.
    »Wissen Sie, daß von diesen vierhundertdreiundsechzig Kranken, die hier anfragen, vielleicht zehn oder mehr gerettet werden können? Vielleicht – das schränke ich ein – vielleicht gerettet werden können! Aber sie haben eine Chance! Statt dessen werden alle vierhundertdreiundsechzig sterben! Durch Staatsgewalt!«
    »Durch den Krebs!« rief Dr. Barthels.
    »Der Staat, vertreten durch Sie, verhindert die Wahrnehmung einer Chance bei diesen Hoffnungsuchenden. Gibt es dafür auch einen juristischen Begriff? Bei meinem Mann fanden Sie ›fahrlässige Tötung‹, weil Unheilbare starben.«
    Oberstaatsanwalt Dr. Barthels ging erregt im Zimmer auf und ab. »Sprechen wir nicht über solch völlig absurde Dinge, gnädige Frau. Ich handle im Allgemeininteresse.«
    »So ist es Allgemeininteresse, daß diese vierhundertdreiundsechzig …«
    »Hören Sie doch bitte mit diesen Zahlen auf! Ebensogut könnte man sagen: Ich darf einen Fabrikanten, der zwei Millionen unterschlagen hat, nicht einsperren, weil durch seine Verurteilung fünfhundert Fabrikarbeiter mit ihren Familien arbeitslos werden und Hunger leiden. Das ist doch keine Gesetzesmoral!«
    »Ich verstehe.« Karin Hansen verabschiedete sich. »Ich lasse Ihnen diese Briefe hier. Ich habe sie alle beantwortet und geschrieben: Wenden Sie sich an Oberstaatsanwalt Dr. Barthels …«
    Am Tag nach Karins Besuch erschien der Fabrikant Barthels bei seinem Bruder, dem Oberstaatsanwalt. Er stellte seinen Schirm – draußen regnete sich der Herbst ein – in einen Schirmständer, knöpfte den Mantel auf und entnahm der Innentasche ein dickes Kuvert. Er warf es auf den Tisch und legte die Hand darauf, als Dr. Barthels es an sich nehmen wollte.
    »Lieber Bruder«, sagte der Oberstaatsanwalt. Der Fabrikant sah ihn groß an, als habe ein fremder Mensch ihn frech geduzt.
    »Ich möchte der Staatsanwaltschaft eine Klage übergeben.«
    »Bitte.« Dr. Barthels kannte das manchmal exaltierte Wesen seines Bruders. »Die Staatsanwaltschaft ist ganz Ohr.«
    »Es handelt sich um eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung mit wahrscheinlicher Todesfolge …«
    »Hast du mit deinem Wagen einen umgefahren? Hat man dir eine Blutprobe entnommen?« fragte Dr. Barthels besorgt. Der
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