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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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Mein Heldentum war in Form von übereifrig überdimensionierten Bandagen deutlich sichtbar, ich trug es mit Stolz, wenn auch unter den größten Schmerzen, von welchen ich aber nicht das geringste verlauten ließ. Heute erinnern an mir noch die beiden großen Knienarben an diesen Höhepunkt. Die Poschinger Elli hat sich, wenigstens solange ich lebe, unsterblich gemacht. Als ich elf war, hat mich die Winter Inge, die jüngste der Sattlertöchter, auf dem Hofbalkon der Sattlerei Winter aufgeklärt, sie hat jedenfalls den Versuch gemacht. Ich hatte, nach der inzwischen in Vergessenheit geratenen Ritzinger Hilda, deren Existenz ich nicht mehr weiter verfolgt hatte, meine zweite Freundin. Ich ging mit ihr an die Traun, ich turnte mit ihr auf dem Gestänge der Eisenbahnbrücke, ich lief mit ihr an den Tennisplätzen vorbei nach Bad Empfing, von wo aus es nicht weit auf den Waldfriedhof war. Dort bestaunte ich immer wieder die monumentale Poschingergruft. Maria, die Letztverstorbene, die Burghausener Studienrätin, war auf einem großen an den Granit angelehnten Foto abgebildet. Wenn man in die Gruft hineinrief, hallte es furchtbar wider. Mit meiner Großmutter bin ich oft in die Leichenhalle gegangen. Am Friedhof vorbei, der sich rasch vergrößerte, führte der Weg nach Wang. In Wang hatte ich auf meinen ersten Waffenradfahrten eine Bäuerin kennengelernt, bei welcher ich die ganzen Kriegsjahre immer wieder eine volle Kanne Milch, Butter und Schmalz abholen durfte. Ich brachte ihr die von uns nicht gebrauchten Tabakkarten. Ich liebte die alte Frau, die in ihrem Gemüsegärtlein alle nur denkbaren Blumen betreute. Das ganze Haus roch nach geheimnisvollen Gewürzen, überall auf den Fenstern und auf den Kästen standen große Gläser mit heilkräftigen Säften, Marmelade und Honig. Das Steyr-Waffenrad hatte seine große Zeit. Von mir immer wieder mit Silberfarbe frisch gestrichen, durchradelte ich auf ihm die ganze weite Umgebung von Traunstein bis nach Trostberg in der einen, bis nach Teisendorf in der anderen Richtung. Immer mit einem Rucksack. Hatte ich genug Lebensmittel gesammelt, und ich hatte fast immer Glück, war ich zuhause naturgemäß der Willkommenste. Die Winter Inge hatte mich nicht nur in das Geschlechtsleben eingeweiht, zuhause war über die sogenannte Sexualität niemals gesprochen worden, nicht in meiner Gegenwart, sie hatte auch als die Tochter eines angesehenen Traunsteiner Bürgers in alle anderen sogenannten bürgerlichen Häuser Zugang. So nahm sie mich überallhin mit, ich kannte bald jedes Haus auch von innen. Im Sommer pflückte ich mit ihr in einem Obstgarten, den die Winter in der Nähe der Kaserne besaßen, riesige Körbe voller Erdbeeren und stopfte mir den Magen damit voll. Ihre Schwester Barbara, die Zweitälteste von im ganzen fünf Winterschen Geschwistern, besuchte in dieser Zeit das Gymnasium, und es hieß, sie sei die Gescheiteste. Eines Tages war die Barbara in die Stadtpfarrkirche gegangen und auf dem Höhepunkt der Messe verrückt geworden. Sie stieg auf die Kanzel und verkündete
eine große Freude
. Sie wurde in eine Klinik gebracht und von da in ein Irrenhaus und ist verschwunden. Die Gescheitesten sind fortwährend von Verrücktheit bedroht, sagte mein Großvater. Da er mit seinem jetzt von verschiedenen Verlegern hereingekommenen Geld nichts anfangen konnte, schickte er mich in die Geigenstunde. Ich ging zu einem Geiger, der mit einer Spanierin verheiratet war, die genauso ausschaute, wie ich mir eine Spanierin vorstellte, sie war schwarzhaarig und hatte eine raffinierte Locke in der Stirn. Angeblich war sie einmal Konzertsängerin gewesen. Ich wollte gar nicht Geige spielen, ich haßte das Instrument, aber mein Großvater sah in mir jetzt einen Geigenkünstler. Er erzählte mir von Niccolo Paganini und rühmte das Weltvirtuosentum. Eine ganze Welt tut sich dir auf, denke nur, du spielst in den berühmtesten Konzertsälen der Welt, in Wien, in Paris, in Madrid und, wer weiß, eines Tages auch noch in New York. Ich liebte das Geigenspiel der andern, mein eigenes haßte ich, und es blieb dabei. Einmal hatte ich, ausgelassen, gegen Weihnachten, bei starkem Schneefall, mit dem Kuvert, in welchem der Monatsobolus für meinen Geigenunterricht steckte, auf dem Stadtplatz, ich weiß nicht warum, ein paar Luftsprünge gemacht. Bei dieser Gelegenheit schleuderte ich plötzlich ein Fünfmarkstück in einen Schneehaufen. Alle Versuche, wieder an das Fünfmarkstück zu kommen, mißlangen. Im
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