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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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rosaroten Unterrock, den sie mir als Engelskleid angezogen hatte, und zerrte mich von der Szene. Ich landete auf einer Bank auf dem Gang. Das Spiel ging weiter. Alles hatte geklappt, nur der Engel hatte versagt. Er saß heraußen auf dem Gang und weinte, während im Saal der Vorhang fiel und der Applaus prasselte. Eines ist mir noch deutlich und als mein größtes Erlebnis im Thüringer Wald in Erinnerung: der Besuch einer Grotte bei Rudolstadt. Wir waren mit einem Aufzug eingefahren in ein Riesengebirge aus Kristallen. Mein ganzes Leben habe ich keine Farben von solcher Schönheit mehr gesehen. Die langersehnte Märchenwelt, da war sie. In der ganzen Gegend hatten wir hin und wieder große Kristalle in der freien Natur gefunden. Einige davon habe ich mit nachhause genommen. Noch ein Zweites beglückte mich: in Saalfeld gab es die berühmte Schokoladenfabrik Mauxion. Überall in Saalfeld waren Automaten aufgestellt, aus denen eine Tafel der unübertroffenen Köstlichkeit herauskam, wenn man zehn Pfennig hineinwarf. Das Taschengeld aller Kinder landete unweigerlich in diesen Automaten. Heute sehe ich mich noch so deutlich, als wäre es gestern gewesen und nicht vor über vierzig Jahren, durch den Thüringer Wald marschieren, singend. Und im Hof des Gebäudes putzten wir unsere Schuhe mit Schmollpasta, die einige, die später aus Wien zu uns gestoßen waren, mitgebracht hatten. Als ich nachhause kam, hatte ich einen Bruder, der von allen geliebt wurde. Zwei Jahre später eine Schwester, auch sie wurde von allen geliebt. Die Kriegsschauplätze waren schon in Rußland, und irgendwo zwischen Kiew und Moskau kämpfte mein Vormund. Mein Onkel Farald schrieb aus Mosjön und Narvik Briefe. Er sei bei den Gebirgsjägern, hieß es. Er war der Spaßmacher der Truppe, in großen Gemeindesälen in der Nähe des Nordkaps sollen ganze Kompanien über seine Witze gelacht haben. Er war in den Stab des Generals Dietl gekommen. An den Kommunisten von einst erinnerte nichts mehr. Er schickte Rentierfelle aus Trondheim und Elchgeweihe aus Murmansk. Wir sahen ihn als Lappen verkleidet auf vielen Fotografien. Waren er oder mein Vormund auf Urlaub, ging ich stolz nebenher durch die Schaumburgerstraße. Beide hatten schon einen Orden an ihre Brust geheftet. Die wehrfähigen Männer waren auf allen nördlichen, östlichen, westlichen und südlichen Kriegsschauplätzen, und jeden Tag wurde um viele, die gefallen waren, getrauert. Wie bei den sozusagen in Zivil Verstorbenen der Stadt wurde auch bei den in der sogenannten Fremde für das Vaterland Gefallenen in der Stadtpfarrkirche die Totenglocke geläutet. Da der Mesner Pfenninger, der in einem kleinen, der Kirche gehörenden Haus gegenüber der Stadtpfarrkirche wohnte, die Gicht hatte und an den Fingern völlig verkrüppelt war, bat er mich eines Tages, ich möge für ihn die Totenglocke läuten. Ich mußte mich mit meinem ganzen Körper an den Strick hängen, um die Glocke zum Läuten zu bringen. Ich bekam fünf Pfennig für jedes Läuten. Die Gicht des alten Pfenninger wurde immer fataler, mein Geschäft blühte immer mehr, reihenweise fielen die Traunsteiner im Feindesland. Dazu kam aber noch die durch den Krieg unerhört in die Höhe getriebene allgemeine Sterblichkeit. Ich hatte nicht nur die Totenglocke zu läuten, sondern auch schwarze Holztafeln an die zwei vorderen Kirchentüren zu hängen, auf welchen Name und Alter der Verstorbenen oder Gefallenen verzeichnet waren. Mit Kreide, die der alte Pfenninger nurmehr noch qualvoll zu führen imstande war. Ich liebte das Pfenningerhaus. Ich bekam nicht nur mein verdientes Geld, sondern auch noch etwas Gutes zu essen, denn die alte Pfenninger kochte ausgezeichnet. Da ich auch schon als Kind ziemlich geldgierig war, lief ich immerfort zum Pfenninger und fragte, ob nicht jemand gestorben sei. Es konnten mir nicht genug Leute sterben. Wenn auf den schwarzen Tafeln kein Platz mehr war, klimperte es ganz schön in meiner Hosentasche. Ich hatte keinerlei Skrupel. In den
Münchner Neuesten Nachrichten
, die von den Poschingerleuten gelesen wurden, waren ganze Seiten vollgeschrieben nur mit den Namen Gefallener und im Bombenhagel Umgekommener. Es war die Zeit der sogenannten
Terrorangriffe
. War Alarm, so suchten wir, ahnungslos, wie wir waren, im Vorhaus Zuflucht, bis wieder Entwarnung gewesen war. Wir hockten vor der Tür, die vom Vorhaus aus direkt in das Totengeschäft führte. Ich baute mir eine eigene Schauerwelt aus den Dutzenden von langen
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