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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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März, als der Schnee wegschmolz, fand ich es wieder. Aufeinmal glitzerte es.
Ich
hatte es wieder gefunden, kein anderer. Wer auf die Idee gekommen war, weiß ich nicht mehr: eines Tages trug ich für den unserer Wohnung gegenüberliegenden Bäcker Hilger Brot aus. Ich trat meine Arbeit um halb sechs Uhr früh an. Mein Rücken wurde in der Hilgerschen Backstube mit einem großen, weißen Leinensack beladen, in welchen Dutzende kleiner Leinensäckchen gestopft waren. Diese Säckchen mit Semmeln, Weckerln und Salzstangerln, je nach Wunsch, hängte ich, bevor ich in die Schule ging, in der Stadt an die verschiedensten Türklinken. Ich verdiente mein Taschengeld auf diese Weise und durfte sechs Gebäckstücke meiner Wahl mit nachhause nehmen. So hatten wir schon das halbe Frühstück umsonst. Einmal in der Woche hatte ich auf einem zweirädrigen Schubkarren große Brotlaibe auf die Priesterseminarhöhe über Haslach zu schieben, was beinahe über meine Kräfte gegangen ist, aber mein Ehrgeiz war immer größer als meine Kräfte. Freilich, die Rückfahrt vom Berg herunter mit dem leeren Wagen war ein Genuß. Im Sommer sehe ich mich mit meiner Mutter einen kleinen Leiterwagen durch die Stadt schieben. Ich empfand das als ungeheuere Schande. Wir waren zu den umliegenden Wäldern unterwegs und holten uns die von den Holzknechten liegengelassenen Rinden. Mit diesen Rinden heizten wir im Winter. Der halbe Dachboden war voller Rinden, die dort oben in kurzer Zeit trocken waren. Meistens hatte ich allein mit dem Leiterwagen in den Wald zu fahren. Ich stopfte soviel Rinden wie möglich auf den Wagen, ich hatte schwer daran zu ziehen. Von der Höhe der Kaserne an hatte ich mich daraufgesetzt und war, mit den Beinen die Lenkstange dirigierend, in die Stadt gefahren. Aber nicht nur wir waren mit dem Rindentransport auf diese Weise beschäftigt. Das taten viele, die es notwendig hatten. Es war nichts Außergewöhnliches. Für den sogenannten Jahrmarkt in der Au bekam ich, zum Unterschied von der Winter Inge und den andern Bürgerskindern, kein Geld. Ich mußte es mir verdienen. Ich ließ mich stundenweise beim Karussell anstellen, mit andern zusammen ging ich wie der berühmte Brunnenesel hunderte-, vielleicht auch tausendemal im Kreis, um das Karussell in Gang zu halten. Ich sah dabei nichts als den von mir und meinen Leidensgenossen zusammengetrampelten Grasboden. Mit dem Geld versuchte ich mich an den Schießbuden als Schütze. Das Ringlspiel fürchtete ich. Das einzigemal auf ihm war mir sofort schlecht geworden, und ich hatte noch in der Luft erbrechen müssen. Ich bewunderte es von unten. Ich bewunderte die Hunderte und Tausende von Glas- und Porzellanvasen, die man schießen konnte, die Hampelmänner, die Zylinderhüte. Einmal war ich tagelang bei einem Stand als Verkäufer von Gummischuhsohlen beschäftigt. Zum Lohn hatte ich ein Dutzend solcher zentimeterdicken Gummisohlen nachhause mitnehmen dürfen. Bis lange nach dem Krieg sind wir mit diesen Sohlen herumgelaufen, die wir an unsere Holzschuhe genagelt hatten, denn auch die Zeit der Ledersohlen war längst vorbei. In der Au war der Zirkus Busch zu Gast, ich wollte Dompteur sein. Als ich aber die weitaufgerissenen Mäuler der Löwen sah, ließ ich von meinem Wunsch wieder ab. Es war fast jede Nacht Alarm, neuerdings auch am hellichten Tag, die Bomberschwärme, oft weit über hundert, formierten sich über unseren Köpfen, um nach München abzudrehen und dort ihre todbringende Last abzuwerfen. Das Interessante verlagerte sich in die Luft, an den Himmel, bei jedem Wetter. Man sah und hörte und hatte Angst. An einem herrlichen, tiefblauen Mittag saß meine Großmutter bei uns in der Schaumburgerstraße an der Nähmaschine, das Dröhnen einer Bomberformation ließ uns aus dem Fenster hinausschauen. Die amerikanischen Maschinen, in Sechserreihen, glitzerten auf ihrer starr eingehaltenen Bahn Richtung München. Plötzlich tauchte von noch höher oben eine deutsche Maschine auf, eine sogenannte Me 109, und schoß, in Sekundenschnelle, einen der Silberkolosse heraus. Meine Großmutter und ich sahen, wie der Bomber aus dem Verband heraus absackte und schließlich in einer gewaltigen Explosion in drei Teile zerbrach, die weit voneinander niedergingen. Gleichzeitig zeigten mehrere weiße Punkte mit dem Fallschirm abgesprungene Mannschaftsmitglieder an. Das Schauspiel war eine vollkommene Tragödie. In dem elementaren Mittagsbild öffneten sich mehrere Fallschirme nicht, und man sah
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