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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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aufgeklärt, wie ich heute weiß. Sie waren erschrocken. Sie hatten einen Fehler begangen, den ich ihnen lebenslänglich nicht vergessen habe. Das Kindererholungsheim lag mitten im Wald, die Doktor Popp hatte die Wahrheit gesagt, in einer großen Lichtung, zum Teil war es ein Fachwerkbau mit vielen Giebeln und Türmchen, vielleicht einmal ein Jagdschloß gewesen. Das sogenannte Kindererholungsheim war aber in Wirklichkeit kein Kindererholungsheim, sondern ein
Heim für schwer erziehbare Kinder
, wie ich heute, nach einem Besuch über vierzig Jahre später, weiß. Es hatte den Anschein, als wäre ich in eine Idylle gekommen. Es gab viele kleine Zimmer mit Stockbetten, mir war ein oberes zugewiesen worden. Der Tag begann mit dem Aufziehen der Hakenkreuzfahne, die bis Einbruch der Dunkelheit im Hof gehißt blieb. Wir hatten um den Fahnenmast anzutreten, die Hand zum Hitlergruß zu heben und im Chor Heil Hitler zu schreien, war die Fahne auf dem Mast. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde die Fahne wieder eingezogen, wieder hatten wir anzutreten auf die gleiche Weise, war die Fahne heruntergelassen, wieder dasselbe Heben der Hand und der Hitlergruß. Nach dem Aufziehen der Fahne hatten wir uns in einer Dreierreihe aufzustellen und marschierten ab. Wir hatten die Lieder zu singen, die wir schon in den ersten Tagen gelernt hatten, ich kann nicht mehr sagen, was für Lieder, aber das am meisten von uns gesungene hatte das Wort
Steigerwald
zum Mittelpunkt. Die Landschaft war schön, wenn auch nicht aufregend. Das Essen war gut. Wir hatten zwei Erzieher, die uns vom ersten Augenblick an, in welchem wir von den NSV-Schwestern übergeben worden waren, erzogen. Es begann mit einem Vortrag über Pünktlichkeit, Sauberkeit und Gehorsam. Wie exakt die Hand zu heben ist beim Hitlergruß undsofort. Mein Pech war, daß ich schon in der ersten Nacht als Bettnässer entlarvt war. Die Methode in Saalfeld war die: mein Leintuch mit dem großen gelben Fleck wurde im Frühstückszimmer aufgespannt, und es wurde gesagt, daß das Leintuch von mir sei. Der Bettnässer wurde aber nicht nur auf diese Weise bestraft, er bekam auch keine sogenannte süße Suppe wie die andern, er bekam überhaupt kein Frühstück. Die süße Suppe liebte ich über alles, es war ein in Suppentellern ausgegebener Brei aus Milch, Mehl und Kakao, je öfter mir dieser Brei entzogen wurde, und das war beinahe täglich, desto größer war naturgemäß meine Sehnsucht danach. Während meiner ganzen Saalfelder Zeit litt ich unter dem Breientzug, weil ich von meinem Bettnässen nicht geheilt werden konnte. Man gab mir Mittel ein, aber diese Mittel nützten nichts. Es war deprimierend, jeden Morgen mein Leintuch im Frühstückszimmer aufgespannt zu sehen und ohne Brei dazusitzen. Ich war eine Schande, und die Kameraden, die ich noch in den ersten Tagen gehabt hatte, waren jetzt keine mehr. Ich war argwöhnisch und nicht ohne Schadenfreude beobachtet worden. Keiner wollte neben dem Bettnässer sitzen, keiner wollte mit dem Bettnässer gehen, keiner wollte naturgemäß mit dem Bettnässer in einem Zimmer schlafen. Ich war aufeinmal so isoliert wie noch nie. Alle vierzehn Tage durften wir nachhause schreiben, aber es mußte eine frohe Botschaft sein. Wie tief meine Verzweiflung gewesen war, läßt sich heute gar nicht mehr denken. Mit leerem Magen schrie ich bei der Fahneneinholung Heil Hitler, marschierte ich mit, das Steigerwaldlied auf den Lippen. Ich war in eine neue Hölle geraten. Aber ich hatte einen Leidensgenossen. Sein Name war Quehenberger, und ich werde diesen Namen mein Leben lang nicht vergessen. Der Bub hatte die sogenannte Englische Krankheit und war an den Händen und an den Beinen verkrüppelt. Er war völlig abgemagert. Er war die kläglichste Figur, die man sich vorstellen kann, es war der erbarmungswürdigste Eindruck, ihn Heil Hitler sagen und durch den Thüringer Wald marschieren zu sehen. Ihm passierte jede Nacht etwas viel Schlimmeres als mir: er beschmutzte sein Bett mit seinem Kot. Ich erinnere mich an dieses Schreckensbild haargenau: im Waschraum unten, wo nur noch die Keller waren, wurde dem Quehenberger das kotbeschmutzte Leintuch um den Kopf geschlagen, während man mir, neben ihm, die wundgewetzten Oberschenkel an den Hoden mit einem weißen Puder bearbeitete. Ich hatte einen Kameraden gefunden, das noch viel größere Opfer. Erzieher wie Schwestern redeten uns naturgemäß auch oft gut zu, aber die meiste Zeit verloren sie die Beherrschung und
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