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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Autoren: Thomas Bernhard
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ich mich nicht aus dem Dachbodenfenster stürzte oder aufhängte oder mit den Schlafpulvern meiner Mutter vergiftete, lag nur daran, daß ich meinem Großvater den Schmerz, den Enkel auf fahrlässige Weise verloren zu haben, nicht antun wollte. Nur aus Liebe zum Großvater habe ich mich in meiner Kindheit nicht umgebracht, es wäre mir sonst ein leichtes gewesen, die Welt war mir alles in allem viele Jahre eine unmenschliche Last, die mich ununterbrochen zu erdrücken drohte. Im letzten Moment schreckte ich doch zurück und ergab mich in mein Schicksal. Der Zeitpunkt der Abreise auf meinen Erholungsaufenthalt rückte näher, meine Wäsche wurde gewaschen, meine Kleider wurden geputzt, meine Schuhe zum Schuster gebracht, damit er sie wieder zusammenflicke. Saalfelden sollte das Ziel sein, ein Ort im salzburgischen Hochgebirge,
nicht weit
. Am Vorabend der Abreise erschien die Doktor Popp mit einem größeren Pappendeckel, an den eine Schnur gebunden war, die ich bei der Abreise um den Hals binden sollte, damit der Pappendeckel an meiner Brust deutlich sichtbar sei. Auf dem Pappendeckel standen mein Name und mein Zielort. Du fährst nur zwei Stunden durch eine genußreiche Landschaft, sagte mein Großvater. Du wirst sehen, es bereitet dir ein Vergnügen. Es kam anders. Der Zug fuhr nicht Richtung Salzburg und nach Saalfelden, sondern Richtung München und nach Saalfeld in Thüringen. Die Meinigen hatten die Aufschrift auf dem Pappendeckel nur oberflächlich gelesen, die Abfahrt war schon in der Dunkelheit, ich war betrogen. Traunstein verschwand, durch die Moore und Sümpfe am Chiemseeufer ging es sehr rasch nach Westen. Noch nie war ich in einem so fein ausgestatteten Zug gesessen, die Sitze waren gepolstert, beinahe lautlos vergrößerte er von Sekunde zu Sekunde die Geschwindigkeit, zuerst hatte ich mich beherrschen können, aber dann forderte der Schock, den es bedeutete, nach Saalfeld und nicht nach Saalfelden zu fahren, seine Tränen. Der Onkel Farald besucht dich in zwei Wochen, hörte ich noch, alles war ein Irrtum gewesen, vielleicht sogar eine gemeine Falle. Thüringen, es war mir kein Begriff, daß es weit im Norden lag, wußte ich. Ich war ins Unglück gestürzt. Wußten sie, daß es sich um Saalfeld und nicht um Saalfelden handelte, so hatten sie mich hineingelegt und an mir ein Verbrechen begangen, wußten sie es nicht, so war es eine unverzeihliche Nachlässigkeit, der sie sich an mir schuldig gemacht hatten. Jetzt traute ich den Meinigen aufeinmal alles zu. Ich verwünschte sie, ich selbst wäre im Augenblick am liebsten gestorben. Flennend entfernte ich mich in der immer tiefer werdenden Nacht vom Zuhause, das jetzt sein wahres und entsetzliches Gesicht zeigte. Auch meinen Großvater schloß ich in alle meine Verdächtigungen und die darauf folgenden Verwünschungen ein. Meine Leidensgenossen, die mit mir das Abteil füllten und noch mehrere andere Abteile des roten Triebwagenzuges, waren von allen meinen Verzweiflungen unberührt, jedenfalls hatte es den Anschein, sie seien von dem gerade begonnenen Unternehmen begeistert. Für die meisten war es die erste Eisenbahnreise überhaupt, mir war die Zugreise schon etwas seit Jahren Vertrautes, ich hatte in der Zwischenzeit, anstatt in die Schule zu gehen, schon dutzendemal einen Zug bestiegen und war damit davongefahren, mit oder ohne Bahnsteigkarte, es war mir immer gelungen, ich war niemals entdeckt worden, auf diese Weise lernte ich alle von Traunstein wegführenden Strecken kennen, und auch die nach München war mir nicht unbekannt. Die Meinigen durften nicht den geringsten Milderungsgrund beanspruchen, bewußt oder unbewußt, sie hatten sich an mir schuldig gemacht, die Leichtfertigkeit, Saalfelden mit Saalfeld zu verwechseln, wenn es gilt, den angeblich so geliebten Sohn und Enkel auf die Reise und ja tatsächlich in eine entsetzliche Ungewißheit zu schicken, ohne sich zu vergewissern, wohin wirklich diese Reise geht, erschütterte mich zutiefst. Eine sogenannte NSV-Schwester, die unsere Gruppe beaufsichtigte, steckte den Kopf in unser Abteil, zählte uns ab. Dann sah sie, daß ich heulte.
Ein Junge heult nicht
, sagte sie, keiner heule, nur ich, alle gingen sie fröhlich und ausgelassen auf die Reise, die ja eine glückliche sei, nur ich nicht. Es war der erste Vorwurf. Dann sah sie, daß ich, zum Unterschied von den andern Kindern, keinerlei Reiseproviant mithatte.
Ach, du armer Junge!
rief sie aus,
was mußt du für Eltern haben, die dir nichts
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