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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten
Autoren: A. J. Kazinski
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verbliebene Licht aus den wenigen Häusern, in denen noch Menschen wohnten. Die übrige Stadt lag im Dunkeln. Der größte Teil Venedigs gehörte irgendwelchen Amerikanern oder Saudis, die bestenfalls zwei Wochen pro Jahr zu Besuch waren.
    Als sein Telefon zu piepen begann, bemerkte Tommaso es: An den Hacken der schwarzen Schuhe des Erhängten war etwas Weißes, das sich problemlos löste, wenn Tommaso daran kratzte.
    »Können wir ihn abnehmen?«, fragte Lorenzo, der Einsatzleiter der Rettungssanitäter. Tommaso war gemeinsam mit ihm in die Schule gegangen. Hin und wieder hatten sie sich auch geprügelt, doch dabei hatte immer Lorenzo gewonnen.
    »Noch nicht.«
    »Du willst mir doch wohl nicht weismachen, dass es sich um Mord handelt?« Lorenzo machte schon Anstalten, den Glasbläser abzuschneiden.
    »Flavio!«, rief Tommaso. »Wenn er die Leiche auch nur anrührt, legst du ihm Handschellen an.«
    Lorenzo stampfte wütend mit dem Fuß auf.
    »Taschenlampe?« Tommaso streckte die Hand aus.
    Flavio hielt sich die Hand vor den Mund und senkte seinen Blick, als er Tommaso die Lampe reichte. Auf dem Boden waren keinerlei Spuren. Und doch. Genau dort, wo der Glasbläser an dem Balken hing, war der Küchenboden gefegt worden. Im Gegensatz zum Wohnzimmer, wo der Boden über und über mit Staub und Unrat bedeckt war. Das Telefon machte erneut piepend auf sich aufmerksam. Tommaso öffnete die Hintertür. In dem verwilderten Küchengarten wucherte eine Weinrebe ein paar Meter in die Höhe. Vor langer Zeit schien einmal jemand versucht zu haben, sie am Rand der Terrasse entlang ranken zu lassen, doch dann hatte man sie einfach zur Sonne hin wachsen lassen. Inzwischen hatten die Ranken das Dach erreicht. In der Werkstatt brannte Licht. Tommaso ging die wenigen Schritte durch den Küchengarten und öffnete die Tür. Im Gegensatz zum Rest des Hauses war die Werkstatt ordentlich aufgeräumt. Fast schon pedantisch.
    Wieder erschien eine Nachricht auf dem Display. Jetzt rollten die Informationen wie Wellen heran. Er wagte es noch nicht, sie zu lesen.
    Der Boden der Werkstatt war aus weißem Beton gegossen. Tommaso kratzte über die Oberfläche. Sie war porös wie Kreide, und der Staub sah wie die Substanz an den Schuhen des Glasbläsers aus. Er setzte sich auf einen Stuhl. Flavio rief, aber Tommaso tat, als hörte er nicht. Seine erste Annahme war richtig gewesen. Das war kein Selbstmord. Das war Rache. Die Rache einer Frau. Der Glasbläser war hier draußen niedergeschlagen und dann durch die Werkstatt gezerrt worden. Dabei waren die Hacken seiner Schuhe weiß geworden.
    »Was machst du hier draußen?«
    Tommaso blickte auf und sah Flavio in der Tür stehen.
    »Bist du okay? Du siehst ein bisschen krank aus.«
    Tommaso ignorierte die Diagnose. »Wir müssen den Rechtsmediziner rufen. Und die Spurensicherung.«
    »Warum?«
    Tommaso fuhr mit dem Finger über den Boden und hielt ihn Flavio demonstrativ unter die Nase, damit er sehen konnte, wie weiß er geworden war. »Das Gleiche klebt an seinen Hacken, wenn du mal nachschauen willst.«
    Es dauerte ein paar Sekunden, bis Flavio klarwurde, was das bedeutete.
    »Nehmen wir die Witwe fest?«
    »Das wäre sicher ein guter Start.«
    Flavio schüttelte traurig den Kopf. Tommaso wusste genau, was in diesen Sekunden durch seinen Kopf ging. Missmut. Die Geschichte, die sie in den nächsten Stunden zu hören bekommen würden, handelte von Armut, Alkohol, verlorenen Arbeitsplätzen, häuslicher Gewalt und Inselstreitereien. Wie all die Geschichten, die sie in der letzten Zeit in Venedig zu hören bekommen hatten. Irgendwo gab es sicher eine Lebensversicherung, die wartete – oder hatte die Witwe des Glasbläsers einfach die Nase voll gehabt? Flavio rief im Präsidium an, um die für die Festnahme notwendige Verstärkung anzufordern. Tommaso atmete tief durch. Heute Nacht geht die Welt unter, dachte er. Er wagte es kaum, die Nachrichten auf seinem Handy zu lesen. Vier MMS von Giuseppe Locatelli in Indien. Tommaso holte seine Lesebrille heraus und studierte das erste Bild: Das Mal auf dem Rücken des Toten. Exakt wie bei den anderen. Dann sah er sich die Nahaufnahmen an.
    »Vierunddreißig«, sagte er leise. »Noch zwei.«

6.
    6.
    Dortheavej, Kopenhagen
    Manisch depressiv . Niels hörte, wie Leon hinter der Tür den anderen etwas zuflüsterte. Er wusste nur zu gut, dass sie ihn in diese Schublade gesteckt hatten und was sie damit meinten: nicht ganz richtig im Kopf. Aber Niels war nicht manisch
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