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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten
Autoren: A. J. Kazinski
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depressiv. Bloß mitunter ziemlich aufbrausend und dann wieder ganz unten im Keller. Die letzte Phase im Keller hatte mehrere Monate gedauert.
    Niels betrachtete seine nackten Beine, während er in die Mitte des Raumes trat. Sie zitterten noch immer: Die Kälte machte es schwer, sich komplett unter Kontrolle zu haben. Einen Augenblick lang erwog er, einfach abzuhauen. Zu fliehen. Leon die Sache zu überlassen. Auf seine Weise. Er selbst hatte seine Dienstwaffe kein einziges Mal benutzt, und er würde es auch nicht tun. Niemals. Dessen war er sich sicher. Er konnte das nicht. Vielleicht war das die simple Erklärung dafür, warum er Vermittler geworden war. Vermittler halfen in Krisensituationen, wie etwa Geiselnahmen, und waren die Einzigen bei der Polizei, die nie eine Waffe trugen.
    Niels räusperte sich und rief: »Peter! Halten Sie mich für einen Idioten?« Niels ging zwei Schritte auf das Schlafzimmer zu.
    »Meinen Sie, ich weiß nicht, wie sich das anfühlt? Dieser Job, den wir haben. Sie und ich?«
    Er wusste, dass Peter ihm zuhörte. Er hörte seinen Atem. Es ging jetzt darum, sein Vertrauen zu gewinnen, damit er die Kinder gehen ließ.
    »Die Menschen wissen nicht, wie es ist, Leben zu nehmen. Dass man dabei immer auch ein bisschen selbst stirbt.«
    Niels ließ den Satz eine Weile im Raum stehen.
    »Reden Sie mit mir, Peter!«, forderte er ihn laut auf. Der forsche Tonfall überraschte ihn selbst. Aber Peter war Soldat, er brauchte einen Befehl.
    »Ich fordere Sie noch einmal auf, Soldat: Reden Sie mit mir!«
    »Was wollen Sie?«, rief Peter aus dem Schlafzimmer und wiederholte seine Frage gleich noch einmal: »Verdammt, was wollen Sie?«
    »Nein! Die Frage lautet, was Sie wollen, Peter. Was fordern Sie? Wollen Sie von hier weg? Dafür hätte ich wirklich Verständnis. Diese Welt ist scheiße.«
    Keine Antwort.
    »Ich komme jetzt zu Ihnen rein. Ich bin unbewaffnet, und ich trage keine Kleider, wie Sie es gefordert haben. Ich schiebe die Tür langsam auf, damit Sie mich sehen können.«
    Niels trat drei Schritte vor.
    »Ich öffne jetzt die Tür.«
    Er wartete ein paar Sekunden. Es war entscheidend, dass er seine Atmung in Schach hielt. Er durfte sich nicht die geringste Nervosität anmerken lassen. Für einen Moment schloss er die Augen, dann öffnete er sie wieder und drückte die Tür auf. Er stellte sich in den Türrahmen. Ein Mädchen lag auf dem Bett. Etwa vierzehn Jahre. Clara. Die Erstgeborene. Sie lag leblos da. Blut auf dem Bettzeug. Peter hockte in der Ecke des Schlafzimmers und sah den nackten Mann in der Tür überrascht an. Der Soldat trug seine Uniform. Flackernder Blick. Er war ein verwundetes Tier. In der Hand hielt er ein Jagdgewehr, mit dem er auf Niels zielte. Zwischen seinen Beinen stand eine leere Flasche.
    »Sie bestimmen nicht über mich«, flüsterte Peter. Er klang jetzt nicht mehr so selbstsicher.
    »Wo ist Sofie?«
    Peter antwortete nicht, aber unter dem Bett war ein leises Schluchzen zu hören. Er ließ das Gewehr sinken und zielte mit der Mündung auf das kleine Mädchen, das sich unter dem Bett zusammenkauerte.
    »Wir haben hier keinen Platz mehr«, sagte der Soldat und sah Niels zum ersten Mal direkt in die Augen.
    Niels hielt seinem Blick stand. »Ja, wir nicht, aber die kleine Sofie schon.«
    »Doch, die ganze Familie.«
    »Ich setze mich jetzt.«
    Niels ging in die Hocke. Das Blut des toten Mädchens tropfte vom Bettgestell auf den Fußboden und spritzte auf Niels’ nackten Fuß. Der Dunst von ungewaschener Bettwäsche und Alkohol hing schwer im Raum. Niels ließ ein paar Sekunden verstreichen. Peter war noch nicht so weit, seine jüngste Tochter zu erschießen, das war deutlich zu erkennen. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Geiselnehmern zu verhandeln, viele Techniken. So viele, dass Niels ins Hintertreffen geraten war, als seine beiden Kollegen zu einem FBI-Kurs in die USA geschickt worden waren. Auch Niels hätte daran teilnehmen sollen, aber seine Reisephobie hatte ihn zurückgehalten. Allein die Vorstellung, sich in einen tonnenschweren Metallkörper zu setzen und dann elf Kilometer über dem Atlantik zu schweben, hatte ihn am Boden gehalten. Mit dem wenig überraschenden Resultat, dass seine Vorgesetzten Niels nun links liegen ließen. Er wurde nicht mehr gebraucht. Außer es war jemand krank oder im Urlaub, wie jetzt.
    Ging es nach dem Handbuch, sollte er jetzt beginnen, mit Peter zu verhandeln. Ihn dazu bringen, seine Forderungen zu stellen, egal was, damit sie
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