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Die Auserwählten

Die Auserwählten

Titel: Die Auserwählten
Autoren: A. J. Kazinski
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Nacht dauern konnten. Aber so lange brauchte er in der Regel nicht. Das Wichtigste bei Geiselnahmen war, in der Kürze der Zeit möglichst viel über den Geiselnehmer in Erfahrung zu bringen. Man musste den Menschen hinter der Bedrohung finden. Erst wenn man ihn erkannte und zu ihm vordrang, gab es Hoffnung. Leon war ein Idiot. Er sah nur die Bedrohung. Deshalb endete bei ihm alles mit einem Schusswechsel.
    Niels suchte in der Wohnung nach Spuren des Menschen Peter. Nach entscheidenden Details. Er betrachtete die Fotografien am Kühlschrank: Peter mit seiner Frau und den beiden Kindern. Unter den Bildern standen mit Magneten geschriebene Namen: Clara und Sofie, Peter und Alexandra. Clara, die Älteste, war bereits ein großes Mädchen. Vielleicht ein Teenager. Zahnspange und Pickel. Es lagen Jahre zwischen den beiden Mädchen. Sofie konnte kaum älter als sechs sein. Helle Haut und blonde Haare. Das Ebenbild ihres Vaters. Clara sah weder Vater noch Mutter ähnlich. Vielleicht stammte sie aus einer früheren Ehe. Niels atmete tief ein und ging ein paar Schritte zurück.
    »Peter? Sind Clara und Sofie bei Ihnen? Und Alexandra?«
    »Verpiss dich«, kam es entschlossen aus der hintersten Ecke der Wohnung. Im gleichen Moment gab Niels’ Körper den Kampf gegen die Kälte auf und begann leicht zu zittern. Peter klang nicht verzweifelt, eher entschlossen. Mit Verzweiflung konnte man verhandeln, Entschlossenheit hingegen war häufig ein Problem. Niels atmete tief durch. Trotzdem, noch war die Schlacht nicht verloren. Finde heraus, was der Geiselnehmer will . Das war ein zentraler Punkt für jeden Vermittler. Und wenn er nichts will, hilf ihm, einen Wunsch zu finden – irgendetwas . Es ging immer nur darum, den Gedanken wieder eine Perspektive zu geben. Im Augenblick befanden sich Peter und seine Gedankenwelt in den letzten Minuten, das entnahm Niels dem selbstsicheren Klang seiner Stimme.
    »Haben Sie etwas gesagt?«, fragte Niels, um Zeit zu gewinnen.
    Keine Antwort.
    Niels sah sich um. Ihm fehlte noch immer das Detail, das die Situation lösen konnte. Sonnenblumentapete. Große Blüten vom Boden bis zur Decke. Etwas störte den Geruch von Feuchtigkeit und Hundepisse. Blut. Kurz darauf entdeckte Niels die Quelle des Geruchs in der Ecke des Zimmers, zusammengekauert, wie man es nicht für möglich halten würde.
    Alexandra hatte zwei Kugeln mitten im Herz. Nur im Film maß man in so einem Fall den Puls, in der Wirklichkeit sah man das klaffende Loch im Herz und wusste, dass das Leben erloschen war. Die Frau starrte Niels mit weit aufgerissenen Augen an.
    Niels hörte plötzlich ein Kind leise weinen.
    »Peter? Ich bin noch hier. Mein Name ist Niels …«
    Eine Stimme unterbrach ihn: »Ihr Name ist Niels, und Sie sind Polizist. Ich habe Sie gehört, und ich habe gesagt, dass Sie sich verpissen sollen.«
    Eine tiefe, entschlossene Stimme. Woher kam sie? Aus dem Badezimmer? Warum zum Teufel hatte Leon keinen Grundriss von der Wohnung besorgt?
    »Wollen Sie, dass ich gehe?«
    »Ja, verdammt.«
    »Das kann ich aber nicht, leider. Es ist mein Job, hier bei Ihnen zu bleiben, bis alles überstanden ist. Was auch immer geschieht. Ich weiß, dass Sie das verstehen. Wir beide wissen das, Peter. Wir haben beide einen Job, der von uns verlangt, bis zum bitteren Ende durchzuhalten, so unmöglich das auch scheint.«
    Niels lauschte einen Augenblick. Er hockte noch immer neben dem toten Körper von Alexandra. Sie hielt ein zusammengeknülltes Stück Papier in der Hand. Ihre Muskeln waren noch nicht steif geworden, so dass es nicht schwer war, ihr den Brief abzunehmen. Niels stand auf und trat ans Fenster, um das Licht der Straßenlaternen im Dortheavej zu nutzen. Der Brief stammte vom Militär. Eine Entlassung. Viel zu viele Worte, drei Seiten. Niels überflog sie rasch. Persönliche Probleme … instabil … unglückliche Vorfälle … Angebote für persönliche Hilfsmaßnahmen und eine Umschulung. Ein paar Sekunden lang fühlte Niels sich wie in einem Zeitfenster gefangen. Als hätte er sich in die letzte Fotografie der Familie geschlichen. Er sah die Situation vor sich: Alexandra findet den Brief. Peter ist entlassen worden. Der Ernährer der Familie. Gefeuert, während er noch damit kämpft, all den Scheiß zu verarbeiten, den er im Dienst für das Vaterland miterleben musste.
    Niels wusste, dass sie nie darüber sprachen. Egal ob man im Irak oder in Afghanistan Dienst getan hatte. Sie beantworteten nicht einmal die einfachsten
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