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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte
Autoren: Ian Banks
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Verbrechen getan hätte, wäre seine Buße dafür gewesen. Statt dessen ließ ich ihn reden, während ich im Geiste abermals meine Wahl zwischen der zerstörerischen Wahrheit und der schützenden Lüge abwog.
    Ich fühlte mich wie Samson im Tempel, imstande, das ganze Gebäude niederzureißen. Ich dachte an die Kinder in Schwester Angelas Klassenzimmer und fragte mich, was mir das Recht gab, die Grundfeste unseres Glaubens über ihren unschuldigen kleinen Köpfen einstürzen zu lassen. Aber ich war mir auch bewußt, daß die Alternative dann darin bestand, sie in einem Glauben aufwachsen zu lassen, der auf einer einzigen großen Lüge gründete.
    Vielleicht sollte ich mich einfach so verhalten, wie alle anderen sich zu verhalten schienen, hier und überall sonst, und die Angelegenheit nach meinen persönlichen, selbstsüchtigen Interessen regeln… nur daß ich ebensowenig entscheiden konnte, in welche Richtung das mich führen würde; ein Teil von mir wollte sich immer noch an unserem Glauben rächen, indem ich ihn in seinen Grundfesten erschütterte, wollte die Macht – die wahre Macht – ausüben, die mir nun durch all das, was ich herausgefunden hatte, gegeben war, und wollte einen mächtigen Schlag gegen all jene führen, die mir Unrecht getan hatten, während ich mir von außen, von oben, das daraus entstehende Chaos anschaute, bereit, die Scherben aufzusammeln und nach meiner Fasson neu zusammenzufügen.
    Ein anderer Teil schreckte vor derart apokalyptischen Träumen zurück und wollte einfach nur – soweit wie möglich – zu dem Leben zurückkehren, wie es gewesen war, bevor all dies angefangen hatte, wenn auch diesmal mit einem Gefühl der Sicherheit, das auf Wissen und verborgener Autorität beruhte, nicht auf Ignoranz und unbekümmerter Naivität.
    Wieder ein anderer Teil wollte einfach nur fortgehen und das alles hinter mir lassen.
    Aber wofür sollte ich mich entscheiden?
    Schließlich setzte mein Großvater sich auf. »Also«, sagte er und blickte auf das Herrenhaus, nicht zu mir. »Was willst du, Isis?«
    Ich saß dort auf der kalten Steinbank, ganz ruhig und klar und distanziert; kühl und reglos, so als wäre mein Herz aus Stein gemacht.
    »Dreimal darfst du raten«, erwiderte ich aus der Kälte meiner Seele.
    Er sah mich verletzt an, und einen Moment lang kam ich mir grausam und schäbig vor.
    »Ich werde nicht fortgehen«, erklärte er hastig und blickte auf den Kies zu unseren Füßen. »Das wäre nicht fair gegenüber all den anderen. Sie vertrauen auf mich. Auf meine Stärke. Auf mein Wort. Wir können sie nicht im Stich lassen.« Er blickte über seine Schulter zu mir, um zu sehen, wie ich das alles aufnahm.
    Ich reagierte nicht.
    Dann blickte er zum Himmel auf. »Ich kann teilen. Du und ich; wir können uns die Verantwortung teilen. Ich mußte damit leben«, erklärte er mir. »All die Jahre über mußte ich damit leben.
    Nun ist deine Zeit gekommen, diese Bürde zu teilen. Wenn du es schaffst.«
    »Ich denke, ich könnte damit leben«, erwiderte ich.
    Wieder sah er mich an. »Nun denn; dann wäre das also geklärt. Wir werden ihnen nichts sagen.« Er hüstelte. »Zu ihrem eigenen Besten.«
    »Natürlich.«
    »Und Allan?« fragte er, den Blick abermals von mir abgewandt. Der Wind trug den Gesang von Vögeln über den Rasen, die Blumenbeete und die Kieswege zu uns, dann nahm er ihn wieder mit sich fort.
    »Ich denke, er war es, der die Phiole mit dem Zhlonjiz in meinen Seesack gelegt hat«, erklärte ich ihm. »Obwohl er vielleicht jemanden hatte, der die Tat für ihn ausgeführt hat. Aber es steht außer Frage, daß er es war, der den Brief von Cousine Morag gefälscht hat.«
    Er sah mich an. »Gefälscht?«
    »Sie hat seit zwei Monaten nicht mehr geschrieben. Es stimmt, daß sie nicht zum Fest kommen wollte, aber der Rest ist frei erfunden.«
    Ich erzählte ihm von dem Urlaub, den Morag und ihr Manager geplant hatten und der erst in letzter Minute abgesagt worden war. Ich berichtete ihm von den Lügen, die Allan Morag über mich erzählt hatte, damit sie sowohl mich als auch die Gemeinde meiden würde.
    »Er hat also ein tragbares Telefon, ja?« fragte Großvater, als wir zu diesem Teil der Geschichte kamen. Er schüttelte den Kopf. »Ich wußte, daß er sich fast jede Nacht dort hinunter geschlichen hat«, sagte er seufzend und wischte sich die Nase mit seinem Taschentuch ab. »Ich dachte, eine Frau würde dahinterstecken, oder vielleicht Drogen oder so was…« Er beugte sich vor, die
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