Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte
Autoren: Ian Banks
Vom Netzwerk:
wie es schien, und während ich mich noch selbst eine verdammte Närrin schalt und mich fragte, wie ich wohl sonst zu ihm durchdringen könnte, veränderte sich sein Gesicht und verlor ganz langsam seinen zornigen Ausdruck. Einen Augenblick lang sackte er sichtlich in sich zusammen, als hätte man die Luft aus ihm herausgelassen, doch dann richtete er sich mit ganzer Willenskraft wieder auf. Trotzdem wirkte sein Gesicht noch immer eingefallen, und er sah mit einem Schlag um fünf Jahre gealtert aus. Ich kämpfte gegen ein Gefühl der Übelkeit an und versuchte, die Tränen zu ignorieren, die in meinen Augen brannten.
    Er starrte mich an. Sein Gesicht war so weiß wie sein Haar. Der Zettel glitt ihm aus den Fingern. Ich bückte mich und fing ihn auf, dann ergriff ich meinen wankenden Großvater beim Arm und führte ihn zum Lehrerpult. Morag rutschte zur Seite, während er sich auf die Tischkante hockte und auf den Boden starrte. Sein Atem kam in schnellen, flachen Zügen.
    Zhobelia tätschelte Großvaters anderen Arm.
    »Geht es dir gut, Schätzchen? Du siehst gar nicht gut aus. Meine Güte, wir beide sind alt geworden, was?«
    Großvater ergriff ihre Hand und drückte sie, dann blickte er zu mir auf. »Würdest du…?« sagte er eilig, dann schaute er zu Morag, Sophi und Angela. »Würdet ihr mich entschuldigen…?«
    Er stand auf. Er schien meine Hand, mit der ich ihn immer noch stützte, überhaupt nicht zu bemerken. Er sah mir einen Moment lang in die Augen, die Stirn leicht gerunzelt, und es machte fast den Eindruck, als hätte er vergessen, wer ich war, und einen Augenblick lang befürchtete ich, er würde einen Herzanfall oder einen Schlaganfall oder irgend etwas Schreckliches erleiden. Dann sagte er: »Würdest du…« und stieß sich vom Pult ab.
    Ich folgte ihm. An der Tür blieb er stehen und schaute zurück zu den anderen. »Äh, entschuldigt uns bitte.«
    In der Eingangshalle blieb er abermals stehen und schien sich erneut aufzurichten. »Vielleicht könnten wir einen kleinen Spaziergang durch den Garten machen, Isis«, sagte er.
    »Der Garten«, erwiderte ich. »Ja, das ist eine gute Idee…«
    *
    Also gingen wir im Garten spazieren, in der Abendsonne, mein Großvater und ich, und ich erzählte ihm, was ich von seiner Vergangenheit wußte, und wo ich es herausgefunden hatte, wenngleich auch nicht, was und wer mich auf die Spur gebracht hatte. Ich zeigte ihm eine der Kopien, die ich von dem Zeitungsartikel gemacht hatte, und teilte ihm mit, daß ich eine zweite in einem versiegelten Umschlag an Yolanda geschickt hätte, damit sie sie von ihren Anwälten verwahren ließ. Er nickte geistesabwesend.
    Ich erzählte ihm auch, daß Allan uns alle hinters Licht geführt hatte und daß etwas gegen seine Lügen unternommen werden mußte. Großvater schien von dieser Neuigkeit nicht sonderlich überrascht oder schockiert.
    Am hinteren Ende des Ziergartens steht eine Steinbank, die Ausblick über einen steilen Hang hinab zu den Gräsern und dem Schilf und dem Schlamm des Flußufers bietet. Jenseits davon erstreckten sich die Wiesen und Weiden zu einer entfernten Baumreihe, hinter der Hügel und Steilhänge unter einem wolkenbetupften Himmel aufragten.
    Mein Großvater vergrub den Kopf in den Händen, und ich befürchtete kurz, er würde anfangen zu weinen, doch er stieß nur einen langgezogenen Seufzer aus, dann saß er einfach da, ließ die Hände über seine Knie baumeln und starrte mit gesenktem Kopf auf den Gartenpfad zwischen uns. Ich ließ ihn eine Weile in Ruhe, dann legte ich – zaudernd – meinen Arm um seine Schultern. Ich erwartete halb, daß er zusammenzucken, meinen Arm wegstoßen und mich anschreien würde, doch er tat es nicht.
    »Ich habe einmal etwas sehr Schlimmes getan«, begann er leise und tonlos. »Ich habe etwas sehr Schlimmes getan, Isis; etwas sehr Dummes… damals war ich ein anderer Mensch, ein anderer Mann. Ich habe den Rest meines Lebens damit zugebracht… zu versuchen, diese Sache wiedergutzumachen… und es ist mir gelungen. Zumindest glaube ich das.«
    So redete er noch eine ganze Weile weiter. Ich tätschelte ihm den Rücken und gab hin und wieder aufmunternde Laute von mir. Irgendwo in meinem Hinterkopf war noch immer die Sorge, er könne einen Herzanfall oder einen Schlaganfall bekommen, doch hauptsächlich war ich überrascht, wie unberührt mich das alles ließ und wie zynisch ich offenbar geworden war. Ich erwiderte nichts auf seine Behauptung, alles, was er seit seinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher