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Die Auserwählte

Die Auserwählte

Titel: Die Auserwählte
Autoren: Ian Banks
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handelte.
    Wir betraten den Hof aus Richtung Norden. Der liebliche Klang von entferntem Singen in Zungen hallte über den Platz, und ich hatte mit einem Mal einen Kloß im Hals. Ich atmete tief durch und guckte durch eines der Fenster des Klassenzimmers, während wir auf den Eingang des Herrenhauses zuhielten. Jemand stand am anderen Ende des Raums und malte mit farbiger Kreide etwas an die Tafel. Die Gestalt sah aus wie Schwester Angela. Die Kinder saßen an ihren Pulten und schauten Schwester Angela zu; einige meldeten sich. Die kleine Flora, Schwester Gays Älteste, drehte sich um und sah mich an. Ich winkte. Sie lächelte freudig und winkte zurück, dann hob sie ihre Hand und fuchtelte aufgeregt damit. Ich hörte sie etwas rufen. Andere kleine Köpfe drehten sich zu uns um.
    Ich ging zum Eingang weiter und hielt Großtante Zhobelia, Sophi und Cousine Morag die Tür auf.
    »Alles in Ordnung?« fragte ich Morag.
    Sie tätschelte meinen Arm. »Bestens. Wie geht es dir?«
    »Nervös«, gestand ich.
    In der Eingangshalle war der Gesang sehr laut; er scholl durch die geschlossene zweiflügelige Tür des Versammlungssaals zu unserer Linken. Schwester Angela öffnete die Tür auf der anderen Seite der Eingangshalle. Sie schien überrascht. Sie starrte erst Morag, dann Zhobelia an. Ihre Kinnlade klappte herunter.
    »Schwester Angela«, sagte ich leise. »Schwester Zhobelia. Ich denke, Schwester Morag kennst du. Wollen wir?« Ich deutete mit einem Nicken auf das Klassenzimmer.
    »Die kleine Angela, was?« sagte Zhobelia, während wir ins Klassenzimmer marschierten. »Ich nehme nicht an, daß du dich an mich erinnerst, oder?«
    »Äh… nicht… nun, ja, aber… äh; Kinder? Kinder!« rief Angela und klatschte in die Hände. Sie stellte Morag und Zhobelia der versammelten Klasse vor, und ein gutes Dutzend Kinderstimmen wünschte den beiden höflich einen guten Abend. Auf der gegenüberliegenden Seite der Eingangshalle wurde der jubilierende Chor des In-Zungen-Singens nach und nach leiser und verstummte dann ganz.
    »Würdest du meinem Großvater sagen, daß Schwester Zhobelia ihn sprechen möchte?« bat ich Angela. Sie nickte und verließ den Raum.
    Zhobelia setzte sich auf den Lehrer-Stuhl. »Wart ihr denn auch alle artig?« fragte sie die Kinder. Ein Chor von Ja-Rufen antwortete ihr. Ich nahm einen Zettel von dem Stapel auf dem Lehrerpult und schrieb eine Zahl darauf.
    Schwester Angela kam zurück. »Äh«, sagte sie, anscheinend unsicher, ob sie mich oder Zhobelia ansprechen sollte. »Er wird – «
    Sie wurde von Großvaters Eintritt ins Klassenzimmer unterbrochen.
    »Bist du sicher – « sagte er, als er den Raum betrat. Er trug eine cremefarbene Feiertagsrobe. Er sah mich und blieb stehen, sein Gesichtsausdruck eher überrascht denn wütend. Ich grüßte ihn mit einem Nicken und drückte ihm den kleinen Zettel in die Hand. »Guten Tag, Großvater.«
    »Was…?« stammelte er und schaute sich um; er blickte auf den Zettel, dann starrte er Zhobelia an.
    Sie winkte. »Hallo, mein Schätzchen.«
    Großvater wollte auf sie zugehen, blieb aber stehen. »Zhobelia…« sagte er. Er schaute zu Sophi, dann starrte er Morag an, die mit verschränkten Armen auf der Kante des Lehrerpults hockte.
    Ich hielt mich dicht neben Großvater. »Ich denke, du solltest dir den Zettel ansehen, Großvater«, sagte ich leise.
    »Was?« Er schaute wieder zu mir. Sein Gesicht lief rot an, während sein Ausdruck von Schock zu Zorn wechselte. »Ich dachte, man hätte dir gesagt – «
    Ich legte meine Hand auf seinen Arm. »Nein, Großvater«, erwiderte ich leise und tonlos. »Alles ist jetzt anders. Sieh dir einfach nur den Zettel an.«
    Er starrte mich wütend an, dann gehorchte er meiner Aufforderung.
    Ich hatte eine Zahl auf den Zettel geschrieben.
    954.024.
    Einen Augenblick lang befürchtete ich, daß die Anspielung zu subtil für ihn gewesen sei, daß zu viel Zeit vergangen sei und er es einfach vergessen habe. Er starrte schweigend auf die Zahl auf dem Zettel, anscheinend zutiefst verwirrt.
    Verdammt, dachte ich. Nur einfach eine Reihe von Zahlen, die jetzt keine Bedeutung mehr für ihn hatte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Wahrscheinlich hatte er seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr an diese Zahl gedacht; ganz sicher hatte er sie in all den Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen. Is, Is; du bist eine Idiotin!
    Die Zahl, die Großvater ansah, war seine alte Militärdienstnummer.
    Schließlich, schier eine Ewigkeit später,
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