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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman
Autoren: Heyne
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nie wieder vergessen würde, seine Serviette zu benutzen - wenn dies für seine Mutter wichtig war, dann war es auch für ihn wichtig.

    »O ja, das tun sie. Könige werden ganz furchtbar groß, und deshalb müssen sie ganz besonders vorsichtig sein, denn ein sehr großer Mensch kann kleinere unter seinen Füßen zertreten, wenn er nur einen Spaziergang macht, sich umdreht oder sich zu hastig an der falschen Stelle hinsetzt. Schlechte Könige tun das oft. Ich glaube, selbst gute Könige können es manchmal nicht vermeiden.«
    »Ich verstehe leider nicht …«
    »Dann hör mir noch einen Augenblick zu.« Sie pochte auf die Schiefertafel. »Unsere Priester sagen, dass unsere Natur teils von Gott und teils vom Alten Pferdefuß stammt. Weißt du, wer der Alte Pferdefuß ist, Peter?«
    »Der Teufel.«
    »Ja. Aber außerhalb von erfundenen Geschichten gibt es nur wenige Teufel, Pete - die meisten schlechten Menschen sind Hunden ähnlicher als Teufeln. Hunde sind freundlich, aber dumm, und so sind die meisten Männer und Frauen auch, wenn sie betrunken sind. Wenn Hunde aufgeregt und verwirrt sind, dann beißen sie manchmal; wenn Männer aufgeregt und verwirrt sind, dann streiten sie. Hunde sind wunderbare Haustiere, weil sie treu sind. Aber wenn ein Mann nur ein Haustier ist, dann ist er ein schlechter Mann, finde ich. Hunde können tapfer sein, aber sie können auch Feiglinge sein, die in der Dunkelheit heulen oder mit eingeklemmtem Schwanz vor Gefahren weglaufen. Ein Hund leckt ebenso eifrig die Hand eines schlechten Herrn wie die eines guten, weil Hunde den Unterschied zwischen gut und böse nicht kennen. Ein Hund frisst verdorbene Nahrung, würgt den Teil aus, den sein Magen nicht vertragen kann, und frisst dann weiter.«
    Sie verstummte einen Augenblick und dachte vielleicht
darüber nach, was gerade im Festsaal vor sich gehen mochte - Männer und Frauen, die trunken lachten und sich mit Speisen bewarfen, und manchmal wandten sie sich beiläufig ab, um sich auf den Boden neben ihrem Stuhl zu übergeben. Roland war genauso, und irgendwie machte sie das manchmal traurig, aber sie hielt es ihm nicht vor und behandelte ihn deswegen nicht schlechter. Es war seine Art. Er würde ihr vielleicht versprechen sich zu bessern, und vielleicht würde er es sogar tun, um ihr eine Freude zu machen, aber hinterher würde er nicht mehr derselbe Mann sein.
    »Verstehst du das alles, Peter?«
    Peter nickte.
    »Fein! Und nun sage mir eines.« Sie beugte sich zu ihm hinab. »Benutzt ein Hund eine Serviette?«
    Zerknirscht und beschämt senkte Peter den Blick und schüttelte den Kopf. Offensichtlich war die Unterhaltung doch nicht so weit abgeschweift, wie er gedacht hatte. Vielleicht weil der Abend sehr anstrengend gewesen war und er jetzt sehr müde war, stiegen ihm Tränen in die Augen und liefen über seine Wangen. Er wehrte sich gegen das Schluchzen, das herauswollte. Er sperrte es in seiner Brust ein. Sasha sah das und bewunderte ihn.
    »Weine nicht wegen einer unbenutzten Serviette, Liebes«, sagte Sasha, »denn das habe ich nicht gewollt.« Sie stand auf, ihr Bauch wölbte sich vor. Die Geburt von Thomas stand kurz bevor. »Ansonsten war dein Benehmen vorbildlich. Jede Mutter im Königreich wäre stolz auf einen Sohn gewesen, der sich nur halb so anständig benommen hätte, und ich bewundere dich von ganzem Herzen. Ich sage dir dies alles nur, weil ich die Mutter eines Prinzen bin. Das ist manchmal schwer, aber es
lässt sich nicht ändern, und ich würde es auch nicht ändern, selbst wenn ich könnte. Aber bedenke stets, dass eines Tages Menschenleben von jeder deiner Bewegungen abhängen können; sogar von den Träumen, die deinen Schlaf heimsuchen, können Menschenleben abhängen. Es werden vielleicht keine Menschenleben davon abhängen, ob du nach dem Brathähnchen deine Serviette benützen wirst … vielleicht aber doch. Vielleicht. Es haben schon geringere Dinge Menschenleben gekostet. Ich verlange von dir, dass du bei allem, was du tust, stets die zivilisierte Seite deiner Natur bedenkst. Die gute Seite - Gottes Seite. Versprichst du mir das, Peter?«
    »Ich verspreche es.«
    »Dann ist alles gut.« Sie küsste ihn sanft. »Glücklicherweise bin ich jung, und du bist jung. Wir werden noch oft über solche Dinge sprechen, wenn du sie besser verstehen kannst.«
    Dazu kamen sie nicht mehr, aber Peter vergaß diese Lektion nie und benutzte immer seine Serviette, auch wenn die anderen es nicht taten.

7
    Sasha starb also.
    Sie
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