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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman
Autoren: Heyne
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bald tot sein, und niemand hat gesehen, wie ich den Wein in sein Zimmer gebracht habe! Sie haben nur dich gesehen!«
    Und dann sprach hinter Peter eine andere Stimme. Sie war nicht kräftig, diese Stimme, sie war so leise, dass man sie kaum hören konnte, und sie zitterte. Aber sie erfüllte alle - Flagg eingeschlossen - mit Staunen.
    »Es gibt einen, der dich gesehen hat«, sagte Peters Bruder Thomas aus dem Schatten des Sessels seines Vaters. »Ich habe dich gesehen, Zauberer!«

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    Peter trat beiseite und machte eine halbe Drehung, die Hand mit dem Medaillon war immer noch ausgestreckt.
    Thomas!, wollte er sagen, aber er konnte nicht sprechen, so entsetzt und bestürzt war er über die Veränderung seines Bruders. Er war fett und irgendwie alt geworden. Er hatte Roland immer ähnlicher gesehen als Peter selbst, aber nun war die Ähnlichkeit gespenstisch.
    Thomas!, wollte er noch einmal sagen, und nun sah er, warum Bogen und Pfeil nicht mehr an ihrem angestammten Platz über Neuners Kopf hingen. Der Bogen lag in Thomas’ Schoß, der Pfeil war eingelegt.
    In diesem Augenblick schrie Flagg auf, warf sich nach vorn und hob die gewaltige Henkersaxt über dem Kopf.

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    Es war kein Schrei der Wut, sondern des Entsetzens. Flaggs weißes Gesicht war verzerrt, seine Haare hatten sich gesträubt. Sein Mund zitterte unkontrollierbar. Peter war von der Ähnlichkeit überrascht gewesen, hatte seinen Bruder aber erkannt. Flagg hingegen ließ sich vom flackernden Feuer und dem tiefen Schatten der Sessellehne vollkommen täuschen.
    Er vergaß Peter. Es war die Gestalt im Sessel, die er mit der Axt erschlagen wollte. Er hatte den alten Mann einmal mit Gift getötet, und dennoch saß er wieder hier, saß in seinem übel riechenden, metverkleckerten Mantel da, hatte Pfeil und Bogen in Händen und sah Flagg mit eingesunkenen, anklagenden Augen an.
    »Geist!«, kreischte Flagg. »Geist oder Dämon der Hölle, mir ist es einerlei! Ich habe dich einmal getötet! Ich werde dich noch einmal töten! Aiiiiyyyyyyieeeee …!«
    Thomas war immer ein ausgezeichneter Bogenschütze gewesen. Wenngleich er selten jagte, war er in den Jahren von Peters Gefangenschaft oft zum Bogenschießplatz gegangen, und, betrunken oder nüchtern, er hatte die Augen seines Vaters. Er selbst hatte einen guten Eibenbogen, aber einen wie diesen hatte er noch nie gespannt. Er war leicht und handlich, und doch spürte er eine große Kraft in dem feinen Annonenholz. Es war eine große, aber anmutige Waffe, von einem Ende zum anderen zweieinhalb Meter, und er hatte im Sitzen nicht
den Platz, voll zu spannen; dennoch zog er die neunzig Pfund Zuggewicht ohne Mühe.
    Feind-Hammer war möglicherweise der größte Pfeil, der jemals gemacht worden war; der Schaft bestand aus Sandelholz, die Federn waren die eines anduanischen Falken, die Spitze aus gehärtetem Stahl. Er wurde beim Spannen heiß; Thomas spürte die Hitze an der Wange wie die eines Ofens.
    »Du hast mir nur Lügen erzählt, Zauberer«, sagte Thomas leise und ließ los.
    Der Pfeil löste sich vom Bogen. Als er das Zimmer durchquerte, schoss er direkt durch Leven Valeras Medaillon, das immer noch an der ausgestreckten Hand des fassungslosen Peter baumelte. Die Goldkette riss mit einem leisen Klick!
    Wie ich euch schon sagte, seit jener Nacht in den nördlichen Wäldern, nach dem Lager im Anschluss an die vergebliche Suche nach den Rebellen, war Flagg von einem Traum heimgesucht worden, an den er sich nicht erinnern konnte. Wenn er erwachte, hatte er stets eine Hand auf das linke Auge gepresst, als wäre er dort verletzt worden. Das Auge brannte noch Minuten, nachdem er erwacht war, aber er konnte keine Wunde entdecken.
    Nun flog der Pfeil Rolands mitsamt dem Medaillon Valeras durch das Zimmer und bohrte sich in dieses Auge.
    Flagg schrie auf. Die zweischneidige Axt fiel aus seiner Hand, und das Heft dieser blutgetränkten Waffe barst ein für alle Mal. Er taumelte zurück, und ein Auge starrte Thomas an. An der Stelle des anderen befand sich jetzt ein goldenes Herz, an dem Peters getrocknetes
Blut klebte. Unter den Rändern des Medaillons quoll eine stinkende schwarze Flüssigkeit - ganz sicher kein Blut - hervor.
    Flagg schrie noch einmal und sank auf die Knie …
    … und plötzlich war er verschwunden.
    Peter riss die Augen auf. Ben Staad stieß einen Schrei aus. Einen Augenblick hatten Flaggs Kleider noch die Umrisse seines Körpers; einen Augenblick hing der Pfeil mit dem durchbohrten goldenen Herzen in
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