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Die Augen des Drachen - Roman

Die Augen des Drachen - Roman

Titel: Die Augen des Drachen - Roman
Autoren: Heyne
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er sterben«, sagte Ben mit einer tonlosen Endgültigkeit, die sie alle verstummen ließ.

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    Flagg hatte die oberste Stufe erreicht und rannte den Flur entlang, seine Brust hob und senkte sich, während er nach Atem rang. Sein Gesicht war schweißgebadet, das Grinsen riesig und grauenerregend.
    Er stellte die gewaltige Axt beiseite und schob den ersten der drei Riegel an der Tür von Peters Zelle zurück. Er öffnete den zweiten … und hielt inne. Es wäre nicht klug, einfach hineinzustürmen, o nein, überhaupt nicht klug. Das Vögelchen versuchte vielleicht in diesem Augenblick, aus dem Käfig zu entfliehen, aber es konnte auch sein, dass er direkt hinter der Tür stand und darauf wartete, Flagg in dem Augenblick, wenn er hineinstürmte, mit irgendetwas den Schädel einzuschlagen.
    Als er das Guckloch in der Tür öffnete und die Stange von Peters Bett vor dem Fenster sah, da begriff er alles und tobte vor Wut.
    »Ganz so einfach ist es nicht, mein kleines Vögelchen!«, heulte Flagg. »Mal sehen, wie du fliegen kannst, wenn dein Seil durchschnitten wird, hä?«
    Flagg schob den dritten Riegel zurück und stürmte mit hoch über dem Kopf erhobener Axt in Peters Zelle. Nachdem er einen raschen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, grinste er wieder. Er hatte beschlossen, das Seil doch nicht durchzuschneiden.

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    Peter ließ sich immer weiter hinunter. Seine Armmuskeln zitterten von der Anstrengung. Sein Mund war trocken; er konnte sich nicht daran erinnern, dass er sich je so sehnlich einen Schluck Wasser gewünscht hatte. Ihm schien, als hinge er schon eine sehr, sehr lange Zeit an diesem Seil, und eine erschreckende Gewissheit beherrschte seine Gedanken. Er würde niemals das Wasser bekommen, das er sich so sehr wünschte. Er würde doch noch sterben, und das war nicht einmal das Schlimmste. Er würde durstig sterben. Und momentan schien das das Schlimmste zu sein.
    Er wagte immer noch nicht, nach unten zu sehen, aber es überkam ihn ein seltsamer Zwang - so stark wie der Zwang seines Bruders, ins Wohnzimmer ihres Vaters zu gehen -, nach oben zu sehen. Er gehorchte dem Zwang - und etwa sechzig Meter über sich sah er Flaggs weißes, mordlüsternes Gesicht herabgrinsen.
    »Hallo, mein kleines Vögelchen!«, rief Flagg fröhlich zu ihm hinunter. »Ich habe eine Axt, aber ich glaube nicht, dass ich sie noch brauche! Ich habe sie weggelegt, siehst du?« Der Zauberer streckte beide Hände aus.
    Alle Kraft schien aus Peters Armen und Händen zu weichen - der Anblick von Flaggs verhasstem Gesicht hatte ausgereicht, das zu bewirken. Er konzentrierte sich darauf, sich festzuhalten. Er konnte das dünne Seil nicht mehr spüren - er wusste, er hielt es noch fest, denn er
sah es in seinen Händen, aber das war alles. Sein Atem kam rasselnd in heißen Stößen aus der Kehle.
    Jetzt sah er nach unten … und sah die weißen, auf ihn gerichteten Flecken dreier Gesichter. Die Flecken waren sehr, sehr klein - er war nicht sechs Meter über dem gefrorenen Kopfsteinpflaster, nicht einmal zwölf Meter; es waren immer noch dreißig Meter, was ungefähr dem vierten Stock bei einem unserer Häuser entspricht.
    Er versuchte sich zu bewegen und stellte fest, dass er es nicht konnte - wenn er sich bewegte, würde er abstürzen. Daher hing er reglos an der Fassade des Gebäudes. Kalter, körniger Schnee wehte ihm ins Gesicht, und im Gefängnis über ihm fing Flagg an zu lachen.

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    »Warum bewegt er sich denn nicht?«, rief Naomi und quetschte Bens Schulter mit ihrer behandschuhten Hand. Sie ließ keinen Blick von Peters Gestalt. Wie er so da hing und sich langsam drehte, erinnerte er auf schreckliche Weise an den Leichnam eines Gehängten. »Was ist nur mit ihm?«
    »Ich weiß nicht...«
    Über ihnen verstummte Flaggs eisiges Gelächter plötzlich.
    »Wer da?«, rief er. Seine Stimme war wie Donner, wie Verdammnis. »Antwortet mir, wenn ihr eure Köpfe behalten wollt! Wer da?«
    Frisky winselte und presste sich an Naomi.
    »Ihr Götter, jetzt hast du es geschafft«, stöhnte Dennis. »Was machen wir jetzt, Ben?«
    »Warten«, sagte Ben grimmig. »Und wenn der Zauberer herunterkommt, werden wir kämpfen. Wir warten ab, was als Nächstes passiert. Wir …«
    Aber viel länger mussten sie nicht warten, denn in den nächsten paar Sekunden wurde vieles - nicht alles, aber ein großer Teil - entschieden.

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    Flagg hatte gesehen, wie dünn und weiß Peters Seil war, und binnen eines Augenblicks hatte er alles begriffen, vom Anfang bis
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