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Die Augen der Mrs. Blynn

Die Augen der Mrs. Blynn

Titel: Die Augen der Mrs. Blynn
Autoren: Patricia Highsmith
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dürfen, in der Gewißheit, daß sie das keinem anderen Mann gestattete. Irritiert schüttelte Hélène den Kopf.
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    »Was soll das heißen?« fragte Gert. Er verfolgte immer noch jede Regung in ihrem Gesicht.
    Knirsch, knirsch… knirsch, knirsch ächzten ihre Stiefel im Schnee, und auf einmal hielt Hélène es nicht mehr aus.
    Sie blieb stehen, hob den Kopf und warf rasch einen Blick empor zum Gipfel des sanft ansteigenden Berghangs – der bestimmt keine acht Kilometer entfernt war, wie Gert behauptet hatte –, dann machte sie kehrt.
    Doch er rührte sich nicht.
    »Darf ich dich wiedersehen?« fragte Gert eindringlich.
    »Ja. Hier. Aber nicht in München«, erklärte sie katego-risch. Sie war es müde, Erklärungen abzugeben, die ohnehin sinnlos waren. Sie trat den Rückweg an.
    »Dann bleibt's bei dem, was ich gesagt habe«, versetzte Gert, der jetzt im Gehen die Arme genauso kläglich hän-genließ wie den Kopf. »Aber erst schreibe ich noch ein Gedicht auf dich.«
    Das, dachte Hélène, ist eine gute Beschäftigung vor dem Tod. Und sie sah voraus, daß die Arbeit an seinem Gedicht Gerts Gemüt vermutlich so beruhigen würde, daß er dar-
    über jeden Gedanken an Selbstmord vergaß. Überhaupt war sie absolut sicher, daß er sich nicht umbringen würde, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum. Es war einfach eine intuitive Gewißheit, wie die jähe Erkenntnis: Ich bin verliebt.
    »Darf ich dich noch zu einer Tasse Tee einladen?« fragte Gert, als sie wieder vor dem Hoteleingang standen.
    Hélène hatte nicht vorgehabt, so bald zurückzukommen, aber jetzt wollte sie nur noch allein sein, und das konnte sie 43
    nur in ihrem Zimmer. »Nein, Gert. Danke –aber wenn du mich entschuldigen willst, ziehe ich mich für eine Weile auf mein Zimmer zurück.«
    »Wenn ich dich entschuldige!« wiederholte Gert mit leisem Lächeln. »Aber natürlich.«
    »Bye-bye«, sagte Hélène, ins Englische wechselnd, tätschelte ihm flüchtig den Arm und verschwand im Hotel.
    Oben in ihrem Zimmer nahm sie die Mütze ab, schlüpfte aus den Stiefeln und trug sie automatisch in das geflieste Bad, damit die paar Schneereste, die noch an den Sohlen hafteten, nicht auf dem Teppich schmelzen würden. Dann zog sie die Jacke aus und trat ans Fenster. Schwarz ragte der zerklüftete Berggipfel in den fahlen, blaßblauen Himmel. Bis auf drei, vier riesige, immergrüne Tannen war der ganze Hang weiß verschneit. Skifahrer waren keine in Sicht, und als ihr das auffiel, fand sie das Panorama plötzlich einsam und melancholisch.
    »Diese Leute begehren mich alle nur deshalb, weil ich sie jetzt nicht mehr brauche«, schoß es Hélène durch den Kopf. »Das ist bitter, aber dann auch wieder menschlich.
    Sie haben das Gefühl, ich würde ihnen nichts wegnehmen, womit sie ja auch ganz richtig liegen.«
    Und die Situation entbehrte nicht der Komik. Wäre sie zum Beispiel hergekommen und hätte sich in den Franzosen verliebt oder, falls sie noch jünger gewesen wäre, in Gert, und wenn sie dann versucht hätte, einen der beiden zu erobern, wäre das wahrscheinlich fehlgeschlagen. Sie war keine Schönheit. Es hatte in ihrem Leben ein paar Männer gegeben – zwei oder drei –, zu denen sie sich hingezogen 44
    fühlte, aber es war ihr nicht gelungen, sie auf sich aufmerksam zu machen. Hélène lächelte auf die Landschaft vor dem Fenster hinab. Sie war wieder schön, wunderschön sogar. Auch sie selbst kam sich seltsam schön vor – und seltsam rein und schuldlos. Kein Mensch wirkt anziehender auf die Welt als der, der im Begriff steht, sie zu verlassen, dachte Hélène. Und wahrscheinlich erscheint einem auch die Welt nie schöner als in diesem Augenblick, aber es ist nicht die Art Schönheit, die man begehrt, die man besitzen möchte oder der man nachtrauert, wenn man sie aufgeben muß. Sie war erfüllt von der beglückenden Gewißheit, daß die Welt weiterbestehen würde – mit allmählichen Verän-derungen zwar, aber unverändert schön, wie eben jetzt.
    Nachdem sie sich um elf Uhr vormittags mit solchen Gedanken getragen hatte, traf Signora Cacciaguerras seltsames Anliegen sie um halb eins folglich nicht ganz unvor-bereitet. Hélène war vor dem Lunch auf ein Kirschwasser heruntergekommen, doch noch auf dem Weg zur Bar fing Signora Cacciaguerra, eine eher kleine Brünette um die Vierzig, gut gekleidet und sehr gepflegt, sie in der Halle ab.
    Die Signora bat darum, Hélène einen Moment allein sprechen zu dürfen, und Hélène schlug vor, in
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