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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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warme, sonnige Tag genügte, um die Schneereste in Montesecco und auf den umliegenden Hügeln schmelzen zu lassen. Als die Erde abgetrocknet war, konnte man sich kaum mehr vorstellen, dass es einmal Winter gewesen war. Die Medienvertreter waren da schon längst abgezogen. Sie hatten aus der Montesecco-Geschichte herausgepresst, was herauszupressen war, und sich dann wieder den Schauplätzen zugewandt, an denen sich üblicherweise Berichtenswertes ereignete. Dem Viminale-Palast in Rom zum Beispiel.
    Innenminister De Sanctis hatte unmittelbar nach Russos TV-Geständnis mitgeteilt, sein Amt bis zur Klärung der ungeheuerlichen Vorwürfe gegen ihn ruhen zu lassen. Das war der Presse entschieden zu wenig, und so musste er zwei Tage darauf unter starkem öffentlichem Druck zurücktreten. Sein Abgeordnetenmandat, das ihn nach Artikel 68 der Verfassung zwar nicht vor strafrechtlichen Ermittlungen, aber vor Untersuchungshaft und Hausdurchsuchungen bewahrte, legte er allerdings nicht nieder. Ansonsten gab De Sanctis ganz den Part der verfolgten Unschuld. Jedwede Kontakte zur Mafia stritt er beharrlich ab. Einfach nur lächerlich sei die Unterstellung, er habe Morde in Auftrag gegeben. Sein Anwalt übernahm es anzudeuten, dass De Sanctis einer Verschwörung seiner politischen Gegner zum Opfer gefallen sein könnte. Die erhebliche Summe Bargeld, die in Russos römischer Wohnung gefunden worden war, lasse darauf schließen, dass der Ispettore und seine Komplizen gekauft worden seien.
    »Ja, von De Sanctis«, hielten deren Verteidiger dagegen. Es habe sich um die Anzahlung für die Morde gehandelt. Die vier Täter stimmten zwar darin überein, auf Befehl des Ministers gehandelt zu haben, beschuldigten sich jedoch gegenseitig der Tatausführung. Keiner wollte den Granatwerfer bedient, keiner auf Catia Vannoni geschossen haben. Jeder von ihnen behauptete, kaum mehr an der Sache beteiligt gewesen zu sein als ein TV-Zuschauer vor dem Bildschirm. Dass es Jahre dauern würde, bis überhaupt Anklage erhoben werden konnte, war abzusehen.
    Daran änderten auch die klaren und detaillierten Angaben des Kronzeugen nichts. Minh erinnerte sich an Namen und Fakten, er beschrieb den Ermittlern genau, wie er in die Kommunikationskanäle zwischen De Sanctis und den Bossen aus Palermo und Agrigento eingedrungen war. Der Minister habe mindestens zwei Millionen Euro einkassiert, die inzwischen auf einer Bank in Liechtenstein lägen. Im Gegenzug seien den Bossen eine Menge kleiner Gefälligkeiten erwiesen worden, von der Versetzung allzu eifriger Polizeichefs über Insiderinformationen, die den Zuschlag bei öffentlichen Aufträgen zur Folge hatten oder Regionalpolitiker erpressbar machten, bis hin zur wohlwollenden Prüfung bestimmter Änderungswünsche bei Gesetzesvorlagen. Auch Kurioses fehlte nicht: Einer der Mafia-Paten habe sich herzlich bedankt, dass ihm der Verdienstorden der Republik Italien verliehen worden sei, sich aber anscheinend im Fürsprecher geirrt. Jedenfalls habe De Sanctis herauszufinden versucht, wer außer ihm den ehrenwerten Herrn protegiere.
    Die Ausdrucke, auf denen Minh dies und anderes dokumentiert hatte, waren während seiner Gefangenschaft allerdings vernichtet, die Festplatte seines Computers gelöscht und neu formatiert worden. Natürlich ordnete die Staatsanwaltschaft eine Welle von Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Verhören an, doch wirklich Handfestes wurde vorerst nicht gefunden. Die Verdächtigenhatten tagelang Zeit gehabt, Spuren und Beweise zu beseitigen.
    Seine Geiselnahme hatte Minh erstaunlich gut überstanden. Man hatte befürchten müssen, dass die traumatischen Erfahrungen seiner Kindheit wiederbelebt würden, aber dem war nicht so. Vielleicht hatte ihm die jahrelange psychologische Behandlung Strategien an die Hand gegeben, um Extremsituationen zu verarbeiten, vielleicht lag es auch daran, dass er diesmal einordnen konnte, was ablief. Das wenigstens glaubte Minh. Er habe den Plan der Geiselnehmer bald durchschaut gehabt und sei sich sicher gewesen, dass keiner der Dorfbewohner ihn ernsthaft für einen Terroristen halten könne. Deswegen habe er die Hoffnung nie aufgegeben. In den Talkshows, zu denen Minh eingeladen wurde, machte er eine überzeugende Figur, wirkte so ruhig, überlegt und selbstsicher, dass er nicht nur Fanpost bis hin zu Heiratsanträgen, sondern auch einige attraktive Stellenangebote erhielt. Bei einer IT-Firma aus Mailand unterschrieb er nach einigem Überlegen, handelte jedoch aus,
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