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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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schien so unwichtig, dass man sich fast schämte, früher einmal damit ausgekommen zu sein. Aber worüber sollte man dann reden, wenn man einen Nachbarn auf der Piazza traf?
    Das passierte freilich immer seltener. Catia und Minh hielten sich nur noch zwei Tage in Montesecco auf, und die Curzios hatten sich schon vorher verabschiedet. Marisa hatte verkündet, dass sie Abstand brauche und irgendwo allein leben wolle, bis sie wisse, wie es weitergehe. Sie hatte von ein paar Monaten gesprochen, aber Donato hatte genau gespürt, dass sie nie mehr zurückkommen würde. Ein Wochenende lang war er ruhelos durch sein Haus marschiert, vom Wohnzimmer die Treppe hoch ins Schlafzimmer und, nach einem Blick durch das Fenster, denselben Weg zurück. Dann hatte er es nicht mehr ausgehalten und sich am nächsten Tag die erstbeste kleine Wohnung gemietet, die er in Pergola bekommen konnte. Ein Auto brauchte er dort nicht unbedingt. So stellte er von den dreitausend Euro, die Canale 5 anstandslos ausgezahlt hatte, die Mietkaution und legte den Rest auf die hohe Kante.
    Ivan Garzone hatte Donato beim Umzug geholfen. Vielleicht war ihm dabei schon der Gedanke gekommen, sich ebenfalls nach einer neuen Wirkungsstätte umzusehen, doch entscheidend war die Cocktailkarte. Ivan hatte längst vergessen, dass er sie in Auftrag gegeben hatte, als die Medienleute den ganzen Tag über in seiner Bar gesoffen hatten. Knapp zwei Wochen, nachdem der Letzte von ihnen abgezogen war, brachte nun der Postbote eine Sendung mit zwanzig Exemplaren einer Hochglanzbroschüre, aus der Ivan die farbenfrohen Abbildungen von Tequila Sunrise, Blue Curaçao und fünfzehn weiteren Drinks entgegenstrahlten. Keinen einzigen davon würde er je in Montesecco verkaufen. Und auch sonst nicht viel. Ivan überlegte, ob er die Cocktailkarten in den Müll werfen sollte, stellte sie dann aber nebeneinander auf die Theke. Als Marta die bunten Bilder sah, fragte er sie, ob sie sich vorstellen könne, in einer großen Stadt oder unten am Meer noch einmal neu anzufangen. Marta nickte. Zufällig habe sie von einem Strandcafé in Senigallia gehört, dessen Pächter aus Altersgünden nächsten Monat aufhöre.
    Unter normalen Umständen wäre der alte Franco Marcantoni darüber gar nicht glücklich gewesen, doch er hatte andere Sorgen. Es dauerte eine Weile, bis Lidia und er herausgefunden hatten, dass ihre Schwester Costanza in ein Krankenhaus in Pesaro gebracht worden war. Und zwar in die Station für Diagnose und Heilung, die dem Department für Geistige Gesundheit zugeordnet war. Franco protestierte aufs Schärfste. Irrenhäuser seien in Italien schließlich schon lange abgeschafft und Zwangsbehandlungen gegen den Willen der Internierten und ihrer Angehörigen deswegen unrechtmäßig. Er musste sich allerdings belehren lassen, dass das Gesetz Nummer 180 vom 13. Mai 1978 und seine Folgegesetze durchaus eine obligatorische ärztliche Behandlung erlaubten, wenn der Vormundschaftsrichter dem vom zuständigen Bürgermeister unter Vorlage eines Gutachtens der Gesundheitsbehörde gestellten Antrag binnen achtundvierzig Stunden zustimme. Das sei geschehen. Franco nahm sich einen Anwalt und legte beim Gericht Widerspruch gegen die Maßnahme ein. Bevor darüber entschieden wurde, teilte das Krankenhaus mit, dass Costanza wegen einer schweren Lungenentzündung auf die Intensivstation verlegt worden sei. Ihr Zustand sei äußerst besorgniserregend.
    Als Franco und Lidia in Pesaro ankamen, war Costanza schon gestorben. Bei der Nachricht brach Franco zusammen. Von einer Sekunde auf die andere schienen ihn Kraft und Lebensmut verlassen zu haben. Nicht einmal bei der Organisation von Costanzas Beerdigung beteiligte er sich. Als es so weit war, wankte er hinter dem Sarg her und ließ die Zeremonie auf dem Friedhof von Montesecco teilnahmslos über sich ergehen. Kurz darauf schlug ihm Lidia vor, zusammen mit ihr in ein katholisches Pflegeheim nach Loreto zu ziehen. Die Versorgung sei dort bestens, und man könne jeden Tag zu Fuß die Wallfahrtskirche besuchen, die an der Stelle erbaut worden war, wo ein paar Engel vor vielen Jahrhunderten das Geburtshaus der heiligenJungfrau Maria aus Nazareth abgesetzt hatten. Ein Trupp Engel als Lufttransportunternehmen, eine zweitausend Jahre alte Jungfrauenwohnung mit einer pompösen Kirche außen herum und die Aussicht, einem Haufen bigotter Nonnen ausgeliefert zu sein – Franco war alles egal. Obwohl nichts darauf hindeutete, dass er irgendwann einmal wieder
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