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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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1 durchzuziehen war auch mit klammen Fingern überhaupt kein Problem.
    Als der schwarze Wagen genau auf der Höhe des Kreuzes angelangt war, schlug die Vierzig-Millimeter-Granate in seiner vorderen Hälfte ein und hob sie ein wenig an. Es wirkte so unwirklich wie eine Filmszene in Zeitlupe und ohne Ton. Lautlos brach unter der Motorhaube ein Vulkan aus, blähte das Blech und zerriss es wie dünnes Papier. Die ausgefransten Fetzen stellten sich auf, und in einem Feuerball fegte eine ungeheure unterirdische Kraft die Eingeweide aus dem Motorraum, Schlauchteile, abgesprengte Ventile, schmelzende Plastikabdeckungen, zerfaserte Kabelenden, verkrümmte Metallstücke, während die Frontscheibe wie von allein in Tausende von Splittern zersprang, die unter zuckenden Blitzen in den Fahrgastraum prasselten. Der Wagen selbst schlitterte auf die Böschung zu. Noch bevor der Explosionsknall ankam, war die zweite Granate im Ziel. Als sei sie enttäuscht, zu spät gekommen zu sein, kippte sie den Wagen halb über die Böschung, zerfetzte grimmig die Fetzen, die die erste gelassen hatte, zerstörteschon Zerstörtes, legte Feuer ans Feuer. Ein Rad drehte leer durch, der Kühlergrill schoss unsinnig rotierend durch die Luft, hoch und höher, weit und weiter, schien auf dem Weg in eine Erdumlaufbahn, bis er sich doch wieder senkte, die Kronen der Bäume durchbrach und auf dem gefrorenen Boden aufschlug. Äste prasselten herab, und dann flimmerte die Luft zwischen den Stämmen vor Schneekristallen, die im Sonnenlicht glänzten und langsam nach unten schwebten.
    Der rote Balken wanderte zurück. Splitterregen und Qualm erschwerten nun die Sicht. Dennoch konnte man erkennen, wie die Flammen meterhoch aus dem Motorraum schlugen und die Benzindämpfe in weißlich-blauen Explosionen verpufften. Ein dritter Schuss war wohl nicht mehr nötig, doch sicher war sicher, und es war so einfach, mit dem Granatwerfer zu treffen. Man musste nur den roten Balken übers Ziel legen, auch wenn es eigentlich kein Ziel mehr gab. Es gab nur noch eine gewaltige lodernde Fackel in einer klirrenden Winterlandschaft.
    Ein wenig höher halten, den Druckpunkt nehmen, durchziehen. Man sah die Granate nicht einschlagen, sah nur, wie die Druckwelle die Feuersbrunst auseinanderwischte, so dass der dunkle Rahmen des Wagens einen Wimpernschlag lang von einem wilden Heiligenschein umgeben schien, bevor sich die Flammen wieder schlossen und mit doppelter und dreifacher Gewalt auf alles einstürmten, was sich zu Asche machen ließ.
    In weitem Umkreis lagen undefinierbare brennende Teile, die die Explosion auf die Äcker gestreut hatte. Wie Lagerfeuer, die überstürzt verlassen worden waren. Auch das Patriarchenkreuz hatte Feuer gefangen. Gierig leckten die Flammen an den beiden Querbalken. Der Schnee am Fuß des Kreuzes war noch nicht geschmolzen. Doch das abzuwarten, dazu blieb nun wirklich keine Zeit.
    Die Schulterstütze war im Nu eingeklappt, und dann maß die Waffe nur noch sechsundfünfzig Zentimeter. Siepasste problemlos in einen mittelgroßen Rucksack. Schnell waren die Verschlüsse zugeklickt. Ein letzter Blick auf die Feuerwand, die um das dunkle Skelett des Wagens toste. Wer sich da drinnen befand, war hundertprozentig tot, und wenn er sieben Leben besessen hätte.
    Meist gehen Welten langsam unter. Manchmal so unmerklich, dass sich selbst ihre Bewohner erstaunt fragen, wann ihnen eigentlich der Boden unter den Füßen weggebrochen ist. In Montesecco begann das Ende vielleicht in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Mine von Cabernardi dichtgemacht hatte. Damals wohnten an die achthundert Menschen in Montesecco, doch jedes Jahr wurden es weniger. Den Anfang machten die Mutigen, die in der Fremde ihr Glück erzwingen wollten, und die Verzweifelten, die nicht wussten, wie sie die hungrigen Mäuler ihrer vielköpfigen Familien stopfen sollten.
    Zuerst gingen nur die Männer. Mit dem Pappkoffer in der einen Hand und dem Dritte-Klasse-Billet in der anderen stapften sie ins Tal hinab, wo sie den Bus zum Bahnhof in Fano nahmen. Sie brachen nach Mailand und Turin auf, in die Schweiz, nach Deutschland, Belgien, und einen verschlug es sogar nach Amerika. Wann immer es möglich war, kamen sie für ein paar Tage in die Heimat zurück, zuerst mit dem Zug, später mit dem Fiat Cinquecento, den sie von den hart erarbeiteten Mark oder Franken angeschafft hatten.
    Sie beteuerten, dass es nirgends so schön wie in Montesecco sei und dass sie nur noch zwei,
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