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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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nicht unterschätzen. Es sei schlau. Gefährlich sowieso. Die einzigen Worte, auf die es höre, seien rund und aus Blei, und wenn jemand … Franco brach im Satz ab und zog unwillkürlich den Kopf ein, weil genau in diesem Moment die Schallwellen der ersten Detonation durch die Bar jagten.
    »Was war denn das?«, konnte Ivan noch fragen, bevor der zweite und dritte Knall über sie hereinbrachen.
    Franco stellte seine Cappuccinotasse vorsichtig auf der Theke ab und blickte den Wirt an. Stumm horchten beide, ob noch weiteres Gedonner folgte. Endlich fragte Franco: »Eine Gasexplosion?«
    Noch kochten einige Einwohner Monteseccos mit Gas aus großen Flaschen, die bei einem Leck oder Defekt fürchterliche Zerstörungen anrichten konnten. Franco hatte mal die Auswirkungen gesehen, als in Pergola die gesamte Außenmauer einer Küche im zweiten Stock weggeblasen wurde. Der Druck war so stark gewesen, dass ein Fensterflügel quer über den Corso geschleudert worden war und sich dort ebenfalls im zweiten Stock in einer Wäscheleine verfangen hatte.
    Ivan schüttelte den Kopf. »Dreimal kurz hintereinander? Nein!«
    Er warf sein Wischtuch neben die Kasse und lief, gefolgt von Franco, aus der Bar. Auf der Piazzetta vor der Kirche stand Francos Schwester Lidia mit einem großen Schlüsselbund in der Hand. Sie trug die Schlüssel für Kirche und ehemaliges Pfarrhaus, die ihr vom Pfarrer in Pergola anvertraut worden waren, immer bei sich. Angeblich, um jederzeit nach dem Rechten sehen zu können, in Wahrheit wohl eher aus angeborenem Misstrauen und vielleichtauch, um die Bedeutung der ihr übertragenen Aufgabe zu unterstreichen. Das Kirchenportal klaffte sperrangelweit auf. Lidia machte keine Anstalten, es zu schließen.
    »Im Ort war es nicht«, sagte sie. »Der Knall kam von weiter weg.«
    Die Luft war kalt und klar. Nach Osten und Süden hatte man freien Blick über die schneebedeckten Hänge und die Kuppen, an die sich die Dörfer duckten. Sie wirkten tot und verlassen. Nur über dem Industriegebiet unten in San Lorenzo standen weiße Rauchfahnen. Ein Lastwagen fuhr längs des Flusstals Richtung Küste. Das Meer selbst konnte man am Horizont als dünnes graues Band erahnen. Alles war wie gewohnt, nur der Knall der Explosionen schien immer noch durch Montesecco zu hallen.
    Ivan Garzone fasste sich als Erster. Er ging zu Lidia, nahm ihr den Schlüsselbund aus den zitternden Händen und fragte: »Welcher ist es?«
    »Was?«
    »Der für den Kirchturm?«
    Lidia zeigte auf einen der Schlüssel. Im Laufschritt zog Ivan los. Er sperrte die Tür zum Kirchturm auf und hastete die steile Holztreppe hinauf. Aus einer breiten Luke, hinter der die Glocken zu erkennen waren, flatterten zwei Tauben auf. Sie flogen hangabwärts, hielten schnurstracks auf den Friedhof zu, der zweihundert Meter außerhalb Monteseccos lag. Mit halb zusammengekniffenen Augen beobachtete Lidia Marcantoni, wie die Vögel zwischen den Zypressen durchsegelten und sich innerhalb des Mauergevierts niederließen. Wenn Lidia nicht alles täuschte, auf einem Sims unterhalb des schneebedeckten Dachs der Friedhofskapelle.
    »Das ist ein ganz schlechtes Omen«, murmelte sie.
    Normalerweise hätte es sich ihr Bruder Franco nicht nehmen lassen, ihren Aberglauben zu bespötteln, um bei dem zu erwartenden Widerspruch seinen Angriff auf zentrale Doktrinen der katholischen Kirche auszuweiten. Jemandenwie Lidia, die an eine jungfräuliche Empfängnis glaubte und selbige noch dazu für eine Sache hielt, über die sich auch der gehörnte Josef freuen sollte, musste Franco ab und zu in die Schranken weisen. Doch diesmal schien er Lidias Bemerkung gar nicht vernommen zu haben. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute nach oben. Mit der rechten Hand hielt er das Berretto fest, das ihm von den weißen Haaren zu rutschen drohte.
    »Was ist?«, rief er, als Ivans Kopf endlich in der Turmluke auftauchte.
    »Ruft die Feuerwehr! Die von Pergola, die von San Lorenzo und die von Arcevia auch!«, schrie Ivan herab. Dann hängte er sich an die Seile. Im Nu läuteten die Glocken der Kirche Sturm. Jeder in Montesecco wusste, dass das nichts Gutes bedeutete. Schon bei dem dreifachen Explosionsknall hatten die Meisten alles stehen und liegen gelassen, Marisa Curzio Teig und Nudelmaschine, Matteo Vannoni das Schnitzmesser, Marta Garzone die Buchführung, aus der sowieso nur hervorgehen würde, dass die Einkünfte der Bar nicht einmal zum Sterben reichten. Jetzt stürzten sie und die Sgreccias
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