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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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einen von der Explosion weggefegten Stuhl, der seine drei noch vorhandenen Beine in grotesker Weise nach oben reckte. Dahinter, am Fuß der Treppe, bewegte sich etwas.
    »Der Sprengsatz hat den Kellerraum grauenvoll verwüstet. Ob Menschen dabei zu Schaden gekommen sind, wissen wir noch nicht. Das Schicksal der Geiseln ist ebenso unklar wie der Aufenthaltsort des Geiselnehmers, dieses siebzehnjährigen Jungen, der …«
    Ein Stein wurde zur Seite gestoßen, ein Schatten zog sich mühsam am Treppengeländer hoch, die Kamera zoomte näher heran, ein Mensch, es war ganz eindeutig ein Mann, der dort schwankend stand, mit staubiger Kleidung und einem Gesicht, über das Blut lief, wie jetzt in der Nahaufnahmezu erkennen war, und die aufgeregte Stimme Anna-Maria Guglielmis rief:
    »Das ist nicht der Terrorist, das ist eine der Geiseln, das ist … verletzt, aber lebend … Roberto Russo, Ispettore der Polizia di Stato, einer der vier, die … Hier herüber, schnell! Bringen Sie sich in Sicherheit, bevor der Täter …!«
    Der verwundete Mann blickte kurz die Treppe hoch und dann wieder in die Kamera. Er machte eine Bewegung, doch erst als das Bild vom Gesicht zurückfuhr und einen größeren Ausschnitt zeigte, konnte man erkennen, dass er den rechten Arm ausgestreckt hatte. Die Pistole in seiner Hand zielte auf ein paar Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen.
    Franco Marcantoni war bekennender Atheist, aber die meisten anderen Bewohner Monteseccos glaubten durchaus an die Auferstehung der Toten. Allerdings waren sie immer der Meinung gewesen, diese würde am Jüngsten Tag und im Jenseits stattfinden. Dass sich nun ein Polizist, der vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden umgebracht worden war, als lebendig genug erwies, um eine Pistole auf sie zu richten, konnte nicht mit rechten Dingen zugehen.
    »Bleibt mir vom Leib!«, keuchte der Polizist. Mit der freien Hand tastete er nach der Wunde an seiner Schläfe: Er schien benommen zu sein, aber zweifelsohne war er ein Mensch aus Fleisch und Blut. Als wären sie lieber einem Geist begegnet, wichen die Dorfbewohner langsam und ohne die Pistole aus den Augen zu lassen zurück. Nur Miguel, der Kameramann, filmte seelenruhig weiter, und Matteo Vannoni schräg hinter ihm blieb ebenfalls stehen. Vielleicht dämmerte auch in den anderen dieselbe hässliche Frage auf, doch ihn lähmte sie so, dass er sich unmöglich vom Fleck rühren konnte. Wenn der Schuss gestern Nacht nicht Ispettore Roberto Russo getötet hatte, wen dann?
    »Minh«, flüsterte Vannoni.
    Die Tür oben an der Treppe öffnete sich einen Spalt, ein Lichtstreifen fiel herab und eine Stimme zischte: »Verdammt, Russo, du bist im Fernsehen!«
    Ispettore Russo umklammerte die Pistole mit beiden Händen, machte einen Schritt nach vorn und sagte: »Die Kamera aus! Sofort!«
    Miguel filmte, wie Russo auf ihn zu wankte.
    »Minh!«, rief Vannoni.
    »Schalt das Ding ab!«, sagte Russo leise. »Sonst knipse ich dich aus.«
    Miguel filmte, als hinge der Lauf der Welt einzig und allein davon ab, dass er seinen Job machte.
    »Minh! Wo bist du?«, schrie Vannoni.
    Der Staub hatte sich gelegt. Das TV-Bild war nun scharf. Die Zuschauer konnten den stählernen Ring der Pistolenmündung erkennen, und in seiner Mitte das dunkle Loch, aus dem die Kugel hervorschießen würde. Die Kamera würde wackeln, stürzen, und dann wäre es mit einem Mal schwarz auf Millionen Bildschirmen in ganz Italien. Aus dem Off sagte die Reporterin:
    »Hilflos sehen wir zu, wie Roberto Russo, Polizist, abgeordnet ins Innenministerium, angeblich vor kurzem von einem Terroristen erschossen, angeblich zuvor als Geisel gefangen gehalten, unseren Kameramann mit dem Tod bedroht. Vielleicht ist es die letzte Einstellung, die er dreht, und deswegen, meine Damen und Herren, die Sie alle Zeugen dieses ungeheuerlichen Vorfalls sind, sollten Sie auch seinen Namen wissen. Der Mann, der unerschrocken seinen Mörder beim Mord filmt, heißt Miguel. Miguel Casalecchio.«
    Doch noch schoss Russo nicht. Er zuckte mit dem Kopf zur Seite, als hätte jemand überraschend seinen Namen gerufen. Die Kamera schwenkte mit einem Moment Verzögerung nach rechts und folgte einem Mann mit erdverschmierter Kleidung, der ins hinterste Eck des Raumes stürmte.
    Eigentlich hatte Minh nur das obere Zimmer benötigt, aber das war ohne das Untergeschoss nicht zu mieten gewesen. Als sie das Büro eingerichtet hatten, hatte Vannoni vorgeschlagen, auch unten auszumisten und das Gerümpel, das
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