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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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die Stelle erst antreten zu müssen, wenn seine Mutter wieder auf den Beinen war.
    Die Operation der Schusswunde war erfolgreich verlaufen, und nachdem Catia aus dem künstlichen Koma erweckt worden war, besserte sich ihr Zustand stetig. Dass die Geiselnahme gut ausgegangen war, mochte sie erst glauben, als Minh neben ihrem Krankenbett stand. Bei seinem zweiten Besuch begleitete ihn Nguyen, der keinesfalls nach Paris zurückkehren wollte, bevor er nicht Catia gesehen hatte. Etwas verlegen stellte Minh ihn als seinen Vater vor, doch Catia schüttelte den Kopf. Das sei völlig ausgeschlossen. Den Mann habe sie noch nie gesehen, geschweige denn mit ihm geschlafen. Minhs Vater habe Tran geheißen und fließend Italienisch gesprochen. Nguyen widersprach sanft, räumte ein, dass achtzehn Jahre nicht spurlos an ihm vorübergegangen seien, aber Catia müsse sich doch an die Party, an das Hotelzimmer erinnern. Obsie nicht mehr wisse, wie er sie auf dem Motorrad mitgenommen habe. Wie sie gelacht hätten, weil sie seinen Namen nicht richtig aussprechen konnte.
    »Nein«, sagte Catia. »Es war alles ganz anders.«
    Und das Foto, das er von ihr gemacht habe? Nguyen zeigte es vor.
    »Ja, das bin ich«, gab Catia zu, »doch Sie haben das Bild weder aufgenommen, noch gehört es Ihnen. Bis vor kurzem war es in meinem Besitz. Ich will gar nicht wissen, wer von meinen Nachbarn es gestohlen und nach Paris geschickt hat. Wie viel haben Sie denn dafür bezahlt? Wie viel war Ihnen ein Beweis wert, mit dem Sie Ihre Vaterschaftsgeschichte an Italia 1 verkaufen konnten?«
    »Aber nein«, sagte Nguyen. »Seit siebzehn Jahren klebt das Foto in meinem Album und …«
    Catia ließ ihn nicht ausreden. »Oder Sie stecken mit den Leuten vom Sender unter einer Decke. Die wollten unbedingt irgendeinen Vater präsentieren, und Sie haben sich bereit erklärt mitzuspielen. Können Sie beweisen, dass die Ihnen mein Foto nicht erst zugesteckt haben, als Sie in Italien ankamen? Ein Reporter ist schließlich bei mir eingestiegen, angeblich, um Vergleichsfotos zu beschaffen. Eines davon als Original abzuzweigen war kein Problem. Und Sie mussten nur noch behaupten, es seit damals aufbewahrt zu haben.«
    »Catia, das ist doch …!«, sagte Nguyen.
    »Wenn Sie mich jetzt mit meinem Sohn allein lassen würden!« Catia wandte sich ab.
    Nguyen verstand die Welt nicht mehr. Er stotterte etwas von Vaterschaftstest. Da warf Catia ihn hinaus. Sie fragte Minh, ob er einen Vater bisher so vermisst habe, dass er sich jetzt einen falschen unterschieben lassen wolle.
    »Werde erst einmal gesund!«, antwortete Minh.
    »Wir beide kommen schon klar«, sagte Catia. Sie versprach, ihr Haus aufzugeben und mit ihrem Sohn nach Mailand zu ziehen. Das hätte sie schon vor siebzehn Jahrenmachen sollen. In Montesecco wollte sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nur noch das Nötigste regeln.
    Das Dorf, in das sie bald darauf zurückkam, war sowieso nicht mehr dasselbe wie früher. Freilich, die Polizeisperren waren abgebaut, die Piazza und alle Gassen frei zugänglich, die Krankenbetten aus der Sebastianskapelle geräumt, und im Pfarrhaus erinnerte nicht einmal eine vergessene Büroklammer daran, dass es einem vielköpfigen Krisenstab als Kommandozentrale gedient hatte. Äußerlich war alles, wie man es seit Jahrzehnten kannte, und doch wirkte das Vertraute fremd. So, als ob die Gassen, Mauern, Fenster nur eine Kulisse wären, die ihren Zweck erfüllt und nun ausgedient hatte. Fünf Tage lang war den Bewohnern ihr Dorf Stück für Stück entrissen worden, fünf Tage lang hatten sie die Besatzer zum Teufel und sich den Alltag zurückgewünscht. Nun herrschte wieder Alltag, aber er fühlte sich fade an. Nicht, dass irgendjemandem patrouillierende Polizisten und aufdringliche Reporter fehlten, es war nur, als hätten diese bei ihrem Abzug etwas überaus Wichtiges aus Montesecco mitgenommen. Was zurückgeblieben war – das spürten die Bewohner –, war nicht mehr ihr Dorf.
    Darüber zu sprechen fiel verständlicherweise schwer. Es ging da um Dinge, mit denen man sich nicht auskannte. Seltsam war nur, dass auch andere Gesprächsthemen nicht mehr zogen. Man konnte sich nicht den lieben langen Tag gegenseitig erzählen, wie man die Geiselnehmer durchschaut und die Sperrzone überwunden hatte. Und das Wetter, die Wildschweine, die Anekdoten über jemanden, der vor zwanzig Jahren gestorben war, das Trumpf-Ass, das man unbedingt gleich am Anfang hätte ausspielen müssen, all das
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