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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Autoren: Jeannette Walls
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hinter dem Fahrer. Während ich ihn anschaute und rätselte, ob er ein zerstreutes Mathematikgenie oder bloß ein hergelaufener Trottel war, fing er meinen Blick auf und zwinkerte mir zu.
    Ich sah schnell weg – es war mir immer total peinlich, wenn mich Leute dabei ertappten, wie ich sie anstarrte –, aber als ich kurz darauf wieder zu ihm rüberschielte, glotzte er mich noch immer an. Er zwinkerte wieder. Ich dachte, ach du Schande, und ich hatte recht: Als Liz aufstand, weil sie zum Klo musste, kam der Trottel rüber, setzte sich neben mich und legte einen Arm auf die Rückenlehne von meinem Sitz. Er drückte mit einem Finger auf Fidos Tupperdose.
    »Was hast du denn da drin?«, fragte er.
    »Meine Schildkröte.«
    »Hat die auch eine Fahrkarte?« Er beäugte mich und zwinkerte mir dann wieder zu. »War bloß Spaß«, sagte er. »Fahrt ihr Mädchen weit?«
    »Virginia«, sagte ich.
    »So ganz allein?«
    »Unsere Mutter hat’s erlaubt.« Und dann schob ich nach: »Und unser Vater auch.«
    »Verstehe«, sagte er, »ihr seid Schwestern.« Er beugte sich näher zu mir. »Du hast wahnsinnig schöne Augen, weißt du das?«
    »Danke«, sagte ich und schaute nach unten. Plötzlich fühlte ich mich sehr unwohl.
    Genau in dem Moment kam Liz vom Klo zurück. »Sie sitzen auf meinem Platz, Mister«, sagte sie.
    »Hab nur ein bisschen mit deiner Schwester geplaudert, Miss.« Er stand auf. »Sie hat gesagt, ihr beide fahrt nach Virginia? Verdammt weite Reise für zwei so hübsche junge Mädchen ganz allein.«
    »Das geht Sie nichts an«, entgegnete Liz. Sie setzte sich. »Der ist total pervers«, flüsterte sie mir zu. »Wieso hast du dem Widerling erzählt, wohin wir fahren? Das war echt bescheuert von dir.«
    Der Perversling kehrte auf seinen Platz zurück, aber er starrte die ganze Zeit zu uns rüber, deshalb fand Liz, wir sollten uns woanders hinsetzen. Die einzigen zwei freien Plätze waren ganz hinten, gleich neben dem Klo. Da roch man die Chemikalien und das ganze andere eklige Zeug in der Toilette, und jedes Mal, wenn Leute sich an uns vorbeiquetschten, um aufs Klo zu gehen, kriegte man mit, wie sie Wasser laufen ließen, sich die Nase putzten und räusperten, und natürlich auch, ob sie groß oder klein machten.
    Auch der Perversling ging ein paarmal aufs Klo, aber wir guckten einfach geradeaus und taten so, als würden wir ihn nicht sehen.
     
    Der Bus fuhr bloß bis New Orleans. Da wir ganz hinten saßen, waren wir die Letzten, die ausstiegen. Als wir unser Gepäck abholten, war der Perversling verschwunden. Der nächste Bus fuhr erst in zwei Stunden, also packten wir unser Gepäck zusammen mit Fido in ein Schließfach und machten einen Spaziergang. Liz und ich litten beide schlimm unter Rigor Podex, wie sie das nannte.
    Es war ein heißer, diesiger Tag, und die Luft war so stickig und schwül, dass man kaum atmen konnte. Vor dem Busbahnhof spielte ein langhaariger Typ in einer Weste mit der amerikanischen Fahne »House of the Rising Sun« auf dem Saxophon. Wo man auch hinsah, es wimmelte von Leuten, die entweder verrückt gekleidet waren – Smokingjacken, aber kein Hemd, Zylinder mit Federn dran – oder so gut wie nichts anhatten, und alle aßen, tranken, lachten und tanzten zu der Musik, die Straßenkünstler an praktisch jeder Ecke machten.
    »Hier liegt echt Voodoo in der Luft«, sagte Liz.
    Eine Straßenbahn kam die Straße herunter, und wir stiegen ein, um eine kleine Stadtrundfahrt zu machen. Die Bahn war nicht mal halb voll, und wir setzten uns in die Mitte. Die Türen schlossen sich gerade, als ein Mann im letzten Moment die Hand dazwischenschob und sie wieder aufgingen. Es war der Perversling. Er setzte sich direkt hinter uns.
    Liz packte meine Hand, und wir suchten uns weiter vorn Plätze. Der Perversling kam hinterher. Wir gingen nach hinten. Er auch. Die anderen Fahrgäste beobachteten uns, aber keiner sagte was. Es war so eine Situation, wo alle wussten, dass irgendwas nicht stimmte, aber andererseits war es ja nicht verboten, dass ein Mann sich mehrmals woanders hinsetzte.
    An der nächsten Haltestelle stiegen Liz und ich aus, noch immer Hand in Hand. Der Perversling auch. Liz führte mich in die Menschenmenge auf dem Bürgersteig, der Perversling kam hinter uns her. Auf einmal zog Liz mich herum, und wir sprangen wieder in die Bahn. Diesmal gingen die Türen zu, ehe der Perversling die Hand dazwischenschieben konnte. Die anderen Fahrgäste fingen alle an zu johlen und zu jubeln, sie zeigten
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