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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin
Autoren: Petra Durst-Benning
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Vaters gesetzt und so lange in der Verborgenheit der Nacht das Handwerk geübt, bis sie es gemeistert hatte. Und danach hatte sie im Laufe der Zeit den schönsten Christbaumschmuck hergestellt, den Lauscha bis dahin gesehen hatte. Glaskugeln von einer Poesie, von einem Glanz und einer Kunstfertigkeit, dass sie selbst die dunkelste Hütte in der Heiligen Nacht zum Strahlen brachten. Der Neid und die Anfeindungen waren nicht ausgeblieben, der Erfolg jedoch auch nicht: Was als Familienunternehmen im kleinsten Sinne – mit Marie als Glasbläserin und ihren Schwestern Johanna und Ruth als Helferinnen – begonnenhatte, beschäftigte heute mehr als zwanzig Arbeiter. Zehntausende von Kugeln aus der Glasbläserei Steinmann-Maienbaum wurden alljährlich in die ganze Welt verschickt und ließen Kinderaugen glänzen. Während die meisten Lauschaer Glasbläser über die schlechte Wirtschaftslage und über zu wenige Aufträge klagten, konnte die »Weiberwirtschaft«, wie der Betrieb auch genannt wurde, dank Johannas Geschäftstüchtigkeit und Maries stetig sprudelnder Kreativität an Wachstum sogar noch zulegen. Auch Ruth, die mittlere der Schwestern, die der Liebe wegen vor vielen Jahren Lauscha in Richtung Amerika verlassen hatte, kümmerte sich nach wie vor um das Wohl des Glasbläserbetriebes, indem sie seine amerikanischen Geschäftsverbindungen pflegte.
    Viele Lauschaer mussten zusehen, wie ihre Kinder in die Stadt zogen, um sich ihren Lebensunterhalt in den wie Pilze aus dem Boden schießenden Fabriken zu verdienen. Für die Zwillinge von Johanna und Peter Maienbaum hingegen gab es keinen Zweifel daran, dass sie bleiben und die Familientradition fortführen würden.
    Als hätte sie Sawatzkys Gedankengänge verfolgt, sprach Marie weiter: »Natürlich bin ich froh und glücklich, dass sich unser Christbaumschmuck nach wie vor so gut verkauft. Gerade heutzutage … Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die anderen merken, dass meine Fantasie aufgebraucht ist. Ständig fühle ich mich so müde, so leer! Finde alles so unsäglich gewöhnlich. Wann immer ich mir etwas Neues ausdenke, habe ich das Gefühl, dasselbe schon einmal gemalt zu haben. Am liebsten würde ich all die banalen Kritzeleien in den Papierkorb werfen, aber unser jährlicher Musterkatalog will schließlich bestückt werden! Und aus Amerika kommen auch ständig Anfragen nach neuen Entwürfen. Vor allem Woolworth drängt und drängt … Kann es sein, dass ich meinen Vorrat an Ideen aufgebraucht habe? All meine Kugeln entworfen?« Ihre Augenweiteten sich plötzlich vor Angst, als traue sie sich gerade zum ersten Mal, diesen Gedanken zu äußern.
    Sawatzky schaute auf ihre angespannten Schultern, auf die schmale, trotzige Nase, die dunkelgrauen Augen, in denen tausend Funken unbemerkt verglühten.
    Aus dem Nichts tauchte das Bild einer anderen Marie vor ihm auf: Gerade einmal achtzehn Jahre war sie alt gewesen, schlank wie eine Elfe, die Stirn schon damals hoch, die Wangen schmal – und mit Augen, in denen jeder Mann nur allzu gern ertrunken wäre, wenn sie dies zugelassen hätte. Aber Marie hatte nur ihre Handwerkskunst im Kopf gehabt und sich von nichts und niemandem ablenken lassen. Die Erinnerung ließ ihn lächeln. Als er sie damals zum ersten Mal zu den Regalen mit den Büchern über die bildenden Künste geführt hatte, hatte sie nicht glauben wollen, dass so viele andere ihre Leidenschaft teilten.
    »Das alles sollen Bücher über die Kunst sein?!«
    Wie groß war ihre Gier gewesen! Alles Geld, das sie mit ihrem ersten Glasbläserauftrag verdient hatte, gab sie für seine Schätze aus. Mit einem riesigen Bücherstapel unter dem Arm und einem seligen Lächeln war sie erst nach Stunden von ihm gegangen, gefolgt von Magnus, dessen offene Bewunderung die junge Künstlerin nicht einmal bemerkt hatte.
    Rein äußerlich hatte Marie sich kaum verändert, sie besaß immer noch ihre Jungmädchenfigur, ihr Jungmädchengesicht mit den großen Augen und den hohen Wangenknochen. Besorgt kaute Sawatzky auf seiner Unterlippe. Dass ein Künstler in ein unkreatives Loch fiel, war nichts Ungewöhnliches. Aber dass ein Bücherliebhaber seiner großen Liebe frei entsagte, war mehr als bedrohlich.
    Plötzlich hatte er nicht übel Lust, aufzustehen und die junge Frau an den Schultern zu schütteln. Stattdessen sagte er:
    »Was Ihnen fehlt, ist eine neue Quelle der Inspiration! Siesind einfach zu lange durch den Wald gelaufen. Haben zu lange das Gefieder der Meisen
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