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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin
Autoren: Petra Durst-Benning
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verstehst du, ich kann jetzt nicht mehr nach New York zurückkommen!« Wanda hielt den Atem an.
    »Ja, das – verstehe – ich«, ertönte Ruths Stimme blechern. Im nächsten Moment wurde die Leitung von einem Rauschen erfüllt. »… alles … anders …«
    Verflixt! Gerade jetzt! »Was hast du gesagt, Mutter? Die Verbindung … Mutter, ich muss jetzt gleich auflegen«, schrie Wanda in den Hörer.
    »Ich habe gesagt, wenn du nicht kommen kannst, dann muss ich mich halt auf den Weg machen!«
    Die Verbindung war nun wieder in Ordnung. Trotzdem traute Wanda ihren Ohren nicht. Mutter wollte Lauscha besuchen – nach so vielen Jahren?
    »Gleich nachher werde ich mich um eine freie Kabine auf einem der nächsten Dampfer bemühen. Vielleicht … kommt Steven ja mit. Wenn nicht, reise ich alleine«, ertönte Ruths Stimme schon wieder viel fester als zuvor. »Wir Steinmänner müssen doch zusammenhalten, oder?«

34

    Am einzigen Bahnsteig des Provinzbahnhofes war kein Mensch mehr zu sehen. Warum fuhren sie trotzdem nicht weiter? Wandas Blick fiel auf die runde Bahnhofsuhr, die zwischen den beiden Gleisen angebracht war. Schon zwei Uhr Mittag! Wenn das so weiterging, würde sie erst in der Nacht zu Hause ankommen.
    Endlich setzte sich der Zug unter Schnaufen und Beben wieder in Bewegung. Es hätte nicht viel gefehlt, und Wanda hätte eigenhändig geholfen, den schweren Koloss anzustoßen.
    Seit Nürnberg hatten sie mindestens fünf Mal haltgemacht. Jedes Mal war Sylvie durch das schrille Kreischen der Bremsen wach geworden und hatte angefangen zu weinen. Wanda hatte Mühe gehabt, sie wieder zu beruhigen. Jedes Mal zog der Geruch nach verbrannter Kohle ins Abteil und kratzte in der Nase und in den Augen. Wandas Taschentuch war schon ganz schmutzig, und auch sie selbst fühlte sich, als hätte sie in einem Kohlelager übernachtet.
    Mit Erleichterung sah sie den Bahnhof kleiner werden und schließlich ganz aus ihrem Blickfeld verschwinden.
    Endlich. Sie wollte nach Hause.

    Bald darauf wurde die offene Landschaft von dichter werdenden Wäldern abgelöst. Nun sah man keine blühenden Rosen und Lilien mehr, dafür jedoch bizarre Gräser, die sich graziös im Wind neigten. Gedankenverloren schaute Wanda aus dem Fenster, als sie plötzlich zu ihrem Erstaunen zwei riesige Fichten sah, die ineinander verwachsen waren.
    Die siamesischen Zwillinge!
    Auf diese beiden Bäume hatte Richard sie hingewiesen, nicht lange, nachdem sie in Coburg losgefahren waren! So tief verwurzelt wie diese Bäume, so ineinander verschlungen wie ihre Äste, so soll auch unsere Liebe sein, hatte er zu ihr gesagt. Ein Lächeln überzog ihr Gesicht.
    Was ihre Mutter wohl zu Richard sagen würde? Wenn sie ihn erst einmal näher kannte, würde sie ihm bestimmt verzeihen, dass er Glasbläser war …
    Mutter in Lauscha. Wanda konnte es sich noch immer nicht richtig vorstellen. Vielleicht hatte Ruth es im ersten Schock nur so dahingesagt? Vielleicht hatte sie es sich schon wieder anders überlegt? Ihre Stimme hatte allerdings sehr entschlossen geklungen.
    Sylvie begann leise zu jammern. Wanda legte sich eine Decke über den Arm, dann hob sie das Mädchen aus demKorb. Zärtlich streichelte sie die verschwitzten feinen Härchen in Sylvies Nacken glatt.
    »Liebe, liebe Sylvie«, murmelte Wanda. »Bald sind wir zu Hause, bald …« Die Kleine beruhigte sich und wandte ihr Köpfchen Wanda zu.
    Wanda versank wieder in Gedanken. Wie Mutter mit ihr geredet hatte! Wie mit einer Erwachsenen. Gar nicht mehr wie früher. »Ich bin stolz auf dich«, hatte sie zu ihr gesagt. Wie gut diese Worte taten!
    »Armes kleines Baby, noch weißt du nichts von deiner Mama, und das ist gut so …«
    Die Erkenntnis traf Wanda so plötzlich, dass sie zusammenzuckte. Befand sie sich nicht beinahe in derselben Lage wie einst ihre Mutter? Da reiste sie durch halb Europa, mit Maries Kind auf dem Arm, das eine de Lucca war, aber in Lauscha aufwachsen sollte. Damals hatte Steven gefälschte Papiere für Ruth und sie besorgt, in ihrem Fall war es Francos Vater gewesen. Damals hatte ihre Mutter beschlossen, dass es das Beste sei, wenn Wanda nichts von ihrer Herkunft erfuhr. Und nun lag es in ihrer Hand zu verhindern, dass Sylvie je von den dunklen Machenschaften ihres Vaters Kenntnis bekam.
    Wanda schluchzte auf.
    »Alles wird gut, meine kleine Prinzessin«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
    Wie aus dem Nichts drangen Johannas Worte zu ihr: »Warum willst du unbedingt die Fehler der
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