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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Autoren: Volker Kutscher
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ihm das Schlimmste angetan, was man ihm antun kann. Sie haben ihn eingesperrt.
    Es sind böse Männer, sie haben Odakota erschossen, vor seinen Augen, und er konnte sich nicht wehren, weil er an einen Stuhl gefesselt da saß und den Tod seines geliebten Tieres mit ansehen musste. Er hat an seinen Fesseln gezerrt, doch hat sein Aufbäumen nur dazu geführt, dass er mitsamt dem Stuhl umgekippt ist, zum grölenden Vergnügen der umstehenden Soldaten.
    Sie haben ihn hungern und dursten lassen und haben ihn geschlagen, sie haben ihm den Schlaf geraubt und ihn stundenlang im kalten Wasser stehen lassen, weil sie etwas hören wollten, Antworten auf ihre Fragen, die er nicht verstand.

    Ein Spion solle er sein, ein Einzelkämpfer, ein Werwolf, alles Mögliche haben sie ihm angeboten, zu dem er hätte Ja sagen können. Auf Russisch, Polnisch, Deutsch haben sie mit ihm gesprochen, und er hat in allen drei Sprachen geschwiegen. Er hat kein Wort gesprochen und alle Qualen stumm ertragen wie ein Mann. Kein Laut des Schmerzes, der über seine Lippen drang.
    Und nun haben sie ihn in diese Blechkiste geschafft, die sich mit dröhnendem Lärm in die Lüfte erhoben hat, kaum hatten sie ihn auf diesen Sitz geworfen mit dem zerschlissenen Lederpolster. Zu Spezialisten wollen sie ihn bringen nach Moskau, so hat der Offizier es ihm erzählt, der auch Deutsch sprach, sehr gutes Deutsch, die würden schon aus ihm herausbringen, was er für einer wäre.
    Was er für einer wäre.
    So einen wie ihn scheinen sie noch nie gesehen zu haben.
    Er sitzt am Fenster in der leicht wackelnden Maschine, lauscht dem gleichförmigen Summen und Dröhnen und schaut hinaus, sieht das Land unter sich, die Wälder und Seen, das Land seiner Vorfahren, und sieht, wie schön es ist. Und wird plötzlich erfasst von einer grenzenlosen Liebe zu seiner Heimat. Er hat das Land immer geliebt, aber nie hat er das so klar und deutlich gespürt wie jetzt.
    Und er weiß plötzlich, was zu tun ist, weiß, wie er seine Freiheit zurückerlangen kann.
    Er schaut sich um. Vier Soldaten sitzen mit ihm in der Kabine, sie rauchen und spielen Karten, sie achten nicht auf ihn, sie glauben ihn sicher, hier oben in der Luft.
    Er ist immer noch gefesselt, aber nur an den Armen, die sie ihm vor der Brust gebunden haben, damit er sitzen kann.
    Der Türriegel, er hat gesehen, wie er funktioniert, wie sie ihn geschlossen haben, vorhin. Er ist immer noch Tokala, der Fuchs. Er ist schlau. Er ist geschickt. Und er ist schnell.
    Es sind nur zwei, drei Schritte, dann steht er an der Tür, zieht den Riegel mit beiden Händen zurück, die Tür fliegt beinah von alleine auf.
    Mit einem Mal brüllt es laut in die Maschine, ein wilderer Lärm als das stumpfe Dröhnen, dem sie bislang ausgesetzt waren, der Wind greift in ihre Metallschale und zerrt an seinen Kleidern.
    Waziyata.
    Der Nordwind selbst will seinen Sohn zu sich hinausholen.

    Tokala hört es hinter sich rufen und blickt sich um. Der Wind hat die Spielkarten vom Tisch gefegt und lässt sie durch die Kabine wirbeln, die Männer sind aufgesprungen. Tokala sieht die Angst in den Gesichtern der Soldaten. Vier Maschinengewehre auf ihn gerichtet. Vier Männer rufen. Er soll von der Tür zurücktreten, soll sich auf den Boden werfen, doch er gehorcht nicht. Einer legt an und wiederholt seine Drohung, er werde schießen. Panik spricht aus seiner Stimme.
    Tokala weiß, dass der Mann nicht schießen wird, er weiß, dass sie ihn nicht an der Flucht hindern können. Er muss gar nichts tun, er lässt sich einfach nach vorne kippen. Und dann spürt er, wie Waziyata ihn packt und an seine Brust drückt.
    Für einen Moment verschlägt es ihm den Atem, das Tosen und Brausen so laut in seinen Ohren, dass keine anderen Geräusche mehr zu ihm dringen, auch nicht das Dröhnen des Flugzeugs.
    Er hatte die Augen geschlossen, als er sich dem Wind hingab, doch jetzt öffnet er sie und sieht die Seen und Wälder, die sein Leben waren, immer näher kommen.
    Und dann weiß er, dass er zu den Auserwählten gehört, denen das Glück vergönnt ist, kurz vor ihrem Tod die Größe und Schönheit der Schöpfung zu sehen, sie nicht nur zu sehen, sie zu spüren am ganzen Leib und mit der ganzen Seele und sie zu erkennen, und in ihrer Schönheit und Größe die eigene Unwichtigkeit und Kleinheit. Und dieses Erkennen beruhigt ihn, wie ihn noch nie zuvor etwas beruhigt hat, nicht einmal der Atem seiner Mutter, als er noch ein Säugling war: das Erkennen, wie klitzeklein er doch
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