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Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)

Titel: Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Autoren: Volker Kutscher
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vaterländische Pflicht zu erfüllen?«
    Sie reden viel von Vaterland in diesen Tagen. Tokala versteht ihre Reden nicht. Und warum Männer in Uniformen ihn jagen, wenn er von Suwalki ein paar Flaschen Petroleum mitbringt oder Salz im Tausch für seine Pelze. Für ihn macht es keinen Unterschied, ob er im Markowsker Wald unterwegs ist oder bei Karassewo, sie aber tun, als sei es der Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Die Grenze. Er hat noch nie verstanden, was sie damit meinen. Der Wald ist derselbe, zu beiden Seiten der Grenze, und Tokala wird nie verstehen, warum der eine Baum preußisch sein soll und der nächste polnisch.
    Es plätschert, als der Mann ins seichte Uferwasser tritt und zu Niyaha Luta hinübergeht.
    »Dass du dich so weit in den Wald hineinwagst! Hast du keine Angst, dass du dich ins Moor verirrst? Oder dass der Kaubuk dich holt?«
    »Ich bin kein Kind mehr, dem man mit so etwas Angst einjagt.«
    »Nein, du bist kein Kind mehr, fürwahr.« Der Mann schaut sie an, auf eine Art und Weise, die Tokala nicht gefällt. »Du bist eine erwachsene Frau. Hast jetzt sogar Stimmrecht.«
    »Ich habe abgestimmt, gleich nach dem Kirchgang. Wenn das deine Sorge sein sollte.«
    Sie will laut und mutig klingen, das spürt Tokala, doch ein leises Zittern schwingt in ihrer Stimme mit.
    »Meine Sorge …« Er schnaubt verächtlich. »Und danach hattest du nichts Eiligeres zu tun, als hier hinauszureiten …«
    Sie schaut sich um, ängstlich. Als fürchte sie, der Mann mit dem Fahrrad könne jeden Augenblick aus dem Wald kommen. Tokala hockt in seinem Versteck und fürchtet sich mit ihr.
    »Liegt es vielleicht daran, dass da ein rotes Taschentuch bei der Stadtmühle am Brückengeländer hängt?«

    Sie sagt nichts, und der Mann tritt näher, bis an den Ast, auf dem sie sitzt, und zeigt auf die Rinde.
    »Da hat jemand ein Herz reingeritzt«, sagt er.
    »Ach ja?«
    Sie klingt wieder mutiger. Der Mut der Verzweiflung.
    »A Punkt, Em Punkt«, sagt er und pult mit seinen Fingern im Holz, »und daneben Jot Punkt, Pe Punkt. Ganz frisch reingeritzt.«
    Sie sagt nichts, doch Tokala sieht die Angst in ihren Augen.
    »A Punkt, Em Punkt, das könntest ja glatt du sein, mein Täubchen.«
    Sein Zeigefinger fährt den Buchstaben in der Rinde nach.
    »Aber wer ist Jot Punkt Pe Punkt?«, fragt er.
    Tokala sieht, wie sich ihre Angst langsam in Wut verwandelt.
    »Was willst du mir sagen?«, herrscht sie ihn an, »was zum Teufel willst du mir sagen?«
    »Dass du dir einen Schmisser angelacht hast, das will ich dir sagen! Und was ich davon halte!«
    Der Mann brüllt jetzt. Tokala in seinem Versteck hält sich die Ohren zu, doch das Brüllen dringt hindurch.
    »Ich habe dir nie irgendwas versprochen!«
    Sie ist heruntergesprungen vom Ast, steht mit den nackten Füßen im seichten Wasser und funkelt ihn wütend an.
    »Ach ja?«, sagt er. »Aber dem Polack, dem hast du was versprochen, oder wie muss ich das hier verstehen?«
    »Du musst gar nichts verstehen, das geht dich alles einen feuchten Kehricht an!«
    »Man redet schon über euch! Du bist nicht einmal großjährig und treibst dich mit diesem Kerl rum, wirfst ihm verliebte Blicke zu!«
    »Ich habe dir nie etwas versprochen, und niemals, nie im Leben werde ich zulassen, dass ein Kerl wie du mich anfasst!«
    Der Mann taumelt zurück, als hätten ihre Worte ihn körperlich getroffen. Wie Stockhiebe. Dann steht er wieder ruhig. Und spricht auch wieder leiser.
    »Aber ihn lässt du ran, was? Den Polack!«
    »Er ist kein Pole, er ist Preuße, so wie du.«
    »Du gibst es also zu!«
    »Und wenn schon? Vielleicht werde ich ihn heiraten!«

    »Einen Katholiken? Einen Polenfreund?«
    »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
    »Was mich das angeht? Das fragst du noch?«
    »Ja, das frage ich dich! Ich weiß nicht, was du hier willst. Verschwinde endlich und lass mich in Ruhe!«
    »Einen Teufel werde ich. Einer muss dir ja Manieren beibringen! Wenn dein Vater das schon versäumt hat!«
    »Wage es ja nicht, mich anzufassen!«
    Der Mann macht einen Schritt auf sie zu, und ihre Augen funkeln ihn an, doch das scheint ihn nicht zu schrecken.
    »Nur ein Kuss«, sagt er, und es klingt alles andere als zärtlich. »Wenn du den Polacken küsst, habe auch ich jedes Recht, dich zu küssen!«
    Mit beiden Händen fasst er ihre dünnen Arme, die ihn abzuwehren versuchen. Tokala hockt in seinem Versteck und sieht, wie der Mann sie gepackt hält und seinen Mund auf ihr Gesicht drücken will und wie sie
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